Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/13.
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Stellen die Sturmtruppen aus den Gräben nicht heraus
zubringen waren. Südlich von La Bassee, beim Hohen-
zollernwerk und bei Loos (siehe Bild Seite 347 unten),
nahm der Angriff große Heftigkeit an. Aber dicht vor
den deutschen Linien brach er zusammen. Nach Aus
weis der englischen Verlustlisten scheint die Einbuße des
Gegners die frühere noch zu übertreffen, bei der er
00 000 Mann verlor. Der englische und der französische
Angriff haben keinerlei Eeländegewinn eingebracht. Er
schöpfung ließ diesen zweiten Angriff im Artois schon am
selben Tage gegen Abend erlöschen.
Die Unsrigen als Befreier im Feindesland,
„Die Franzmänner sind schnell zu uns gekommen,
aber noch schneller waren sie wieder fort," so sagte man
uns auf Befragen in Dieuze. Und so war es. Schnell ging
der französische Einfall in deutsches Gebiet vonstatten. Man
betrachtete Elsaß-Lothringen als schon wieder zu Frankreich
gehörend und schonte darum auf dem Vormarsch das
dortige Privateigentum ebenso wie den staatlichen Besitz.
Da gellte den französischen Eindringlingen unverhofft und
unerwartet ein deutsches Halt in die Ohren und deutsche
Männer, deutsche Waffen redeten bald eine Sprache, die
die Franzmänner bewog, so schnell wie möglich Fersengeld
511 geben. Als die Unsrigen dann die Grenze überschritten
hatten, zeigte sich ihnen manch eigentümlicher Beweis
französischer Zivilisation.
Wir lassen ein paar Beispiele folgen. ^Etwa sechs Kilo
meter von der Grenze entfernt liegt das Schloß einer fran
zösischen Künstlerin. Vor unserer Ankunft hatten die Fran
zosen nur drei Tage lang hier ihr Quartier aufgeschlagen.
Aber wie sah es aus! Ein alter Verwalter führte uns um
her. In den Prunkzimmern eine Verwüstung. Die seidenen
Tapeten hingen zerfetzt von den Wänden hernieder. Zer
schlagene Kronleuchter waren in buntem Durcheinander
mit den Trümmern und Scherben feiner Mahagonimöbel
und echt chinesischen Geschirrs umhergestreut. Zerstörte
Klaviere, aufgeschnittene Daunenbetten, gewaltsam zer
fetzte Plüschsessel und Samtdiwans, leergeplünderte Bilder
rahmen vollendeten das Bild der Zerstörung. In den Stal
lungen der Wirtschaftsgebäude ähnliche Verwüstungen.
Dort ein totes Pferd, dahinter tote Rinder und Geflügel
— alles aus Mutwillen erschossen. „Diese Verheerung haben
die Unsrigen doch wohl nicht ohne Grund angerichtet,"
sagen wir zu dem alten Verwalter. Da rinnen Tränen
über seine eingefallenen Wangen, er ballt die Fäuste,
und der zahnlose Mund murmelt: „O diese Hunde! Nir
Prussien, alles Franzosen. Prussiens besser, viel besser als
französischer Soldat." Man konnte
es dem alten Manne anmerken, was
in ihm vorgegangen sein mochte, ehe
er es über sich gewann, die eigenen
Landsleute zu verwünschen.
Noch an mancher Stätte der Zer
störung führte unser Weg uns vor
über. In den Lazaretten von Ein-
ville-au-Jard bemühten sich manche
der Bewohner um die dort unter
gebrachten deutschen Verwundeten.
An den Lagerstätten der verwun
deten Turkos dagegen schlichen diese
Samariter eines feindlichen Volkes
mit Blicken des Entsetzens ausfallen
derweise vorbei. Man sagte uns auf
Befragen, daß diese Bestien von der
Bevölkerung mehr als alles gefürchtet
wurden und daß diese den Einzug
der Deutschen als Erlösung empfand.
In den Häusern waren weder Lebens
rnittel noch Wertsachen sicher, und eben
sowenig wurde vor der weiblichen
Ehre haltgemacht. Was die Turkos
nicht verzehren oder mitnehmen konn
ten, vernichteten ste.
Die Unsrigen als Befreier!
Man begreift es wohl, wenn man
hört, wie französische Behörden ihren
eigenen Landeskindern mitgespielt
haben. So erzählte uns ein acht
zehnjähriger Bursche, daß er erst drei Tage und drei
Nächte mit des Vaters altem Ackergaul französische Ver
wundete habe befördern müssen. Zwölf Franken Tagelohn
sollte er erhalten. Das lockte, und der Auftrag wurde
frohgemut übernommen, bis Bursche und Pferd vor
Ermattung umzusinken drohten. Man trieb den Jungen
mit wuchtigen Hieben an und erschoß die Mähre, ohne
lange zu fragen. Zähneknirschend mußte der Bursche sich
dies gefallen lassen, mußte weitere fünf Tage Schützen
gräben ausheben, bis er krank umsank. Da erst warf man
ihn auf einen Wagen und beförderte ihn in ein seinem
Heimatort benachbartes Dorf. Zu Hause mußte er er
fahren, daß französische Truppen'die Weinfässer des väter
lichen Kellers geleert, die vorhandenen Lebensmittel ver
zehrt hatten und dann ohne Bezahlung verschwunden waren.
Wir erfuhren dies alles, als uns der Junge eines Nachts
fuhr. Er wurde natürlich freundlich behandelt und erhielt
zudem ein blinkendes Goldstück, wofür er mit den Worten
dankte: „O, gute Deutsche; französisch Militär viel, viel
schlechter!" Ob er heuchelte? Wir glauben es nicht, son
dern halten seine Worte für den Ausdruck seiner wirklichen
Gesinnung.
Einmal mußten wir in der Wohnung einer Fabrik
arbeiterin für die Nacht ein Unterkommen suchen. Wir
hatten tagsüber keinen Bisten über die Lippen gebracht
und holten nun Fleisch und Brot aus dem Brotbeutel.
Die Frau zeigte sich bereit, uns das Fleisch auf ihrem
Herde zuzubereiten. Sie arbeitet unermüdlich, um unseren
Wünschen gerecht zu werden. Dabei umdrängen sie fort
während ihre sechs Kleinen. Wir verstehen nicht, was
Kinder und Mutter besprechen, sehen aber, wie die Frau
plötzlich ihr Jüngstes hochhebt, herzt und küßt und dann
unter Tränen wieder auf den Boden stellt. Einer von uns,
der etwas Französisch versteht, bringt allmählich heraus,
daß die hungrigen Kleinen die Mutter bedrängen, ihnen
auch etwas von dem Essen zu geben. Die Frau erhielt,
seitdem ihr Mann eingerückt war, keinen Pfennig Unter
stützung. Die Spargroschen waren aufgebraucht, und da
die jüngste französische Einquartierung die fürsorglich an
geschafften Lebensmittelvorrüte kurzerhand aufgezehrt hatte,
mußten sich die armen Leute nun schon wochenlang von
Rüben und Obst nähren. Natürlich sorgten wir nun, daß
sie endlich einmal wieder etwas Besseres bekamen. Als wir
dann plötzlich in der Nacht alarmiert wurden und ins
Gefecht zogen, stand die Frau mit ihren Kindern vor dem
Hause und rief den braven Prussiens Glück- und Segens
wünsche nach. —
Im ganzen läßt sich sagen, daß der Deutsche sich
in Feindesland durch Disziplin und Menschlichkeit zwar