Volltext: Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/15. Achter Band. (Achter Band)

Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/18. 
Die Eroberung Estlands. 
Von Dr. Fritz Wertheimer, Kriegs 
berichterstatter der Frankfurter Zeitung. 
(Hierzu die Bilder Seite 223 nach Original- 
ausnahmen des Verfassers.) 
Die Eroberung Estlands wird in 
der Kriegsgeschichte ihre besondere 
Rolle spielen, weil sie einen ersten 
Versuch und eine einzigartige Lei 
stung darstellt. Unser Einmarsch in 
das Baltikum vollzog sich unter un 
gewöhnlichen Umständen. Die Not 
gebotihn. JedesZuwartenbedeutete 
ein immer maßloser werdendes Wü 
ten der bolschewistischen Schreckens 
herrschaft gegen Gut und Blut von 
Letten, Esten und Deutschen. Unser 
ganzer Vormarsch wurde so zu einer 
Rettungshandlung, bei der es auf 
Schnelligkeit des Entschlusses an 
kam, bei der von der Tatkraft des 
Handelns Menschenleben abhingen. 
Und so konnte man auch mit Est 
land nicht etwa zuwarten, bis die 
von der Düna in breitem Strome 
vordringenden deutschen Truppen 
durch ganz Livland durchgedrungen 
wären, um erst dann Estlands 
Grenzen zu überschreiten. Man 
unterschätzt ja gewöhnlich die Ent 
fernungen in den Ostseeprovinzen: 
es sind von Riga bis Reval in der 
Luftlinie über 320 Kilometer, und 
mindestens ebensoviel von Riga bis 
znrNarowaeckedesPeipusiees(siehe 
Bild Seite 222)! So kam man auf 
den Gedanken, die Besatzung der 
Inseln Osel, Moon und Dagö unter 
ihrem bewährten Gouverneur, dem 
General v. Seckendorfs (siehe Bild 
Seite 195), zu einer Expedition nach 
Osten zu entsenden. Diese Truppen 
standen seit der Oktobereroberung 
der Inseln da oben, um den wich 
tigen Besitz gegen etwa mögliche 
Angriffe von Osten her zu be 
schützen. Seit über zwei Monaten 
lag ein dichter Eisring um die In 
selgruppe und verhinderte jeden 
Schiffahrtsverkehr. Wohl war alles 
militärisch Wichtige in großen Ma 
gazinen als Wintervorrat ange 
häuft, aber das psychologisch nicht 
Unwichtige, Heimatpost, hatten alle 
die Leute seit Monaten nicht er 
halten können. Und es ist ein 
glänzendes Zeichen für das deutsche 
Heer, daß trotz aller Einförmigkeit 
des winterlichen Nachtdienstes, trotz 
des Fehlens der engen Beziehun 
gen mit der Heimat auch dieses 
„Nordkorps" sich in glänzender 
Form seiner Aufgabe entledigte. 
AIs der Operationsbefehl nach 
dem<Hcheiternder Friedensverhand- 
lungest durch den Draht übermit 
telt wurde, da war insofern eine 
wichtige Hilfe vorhanden, als die 
Verladung türkischer Kamele in Hidja 
Tschiftchan an der Bagdadbahn. 
estnischen Bauern und Besitzer der Inseln durch Boten, die 
häufig übers Eis vom Festland kamen, von der Not und dem 
Elend ihrer Landsleute drüben wohl unterrichtet waren und 
gerne ihre Hilfe an Rat und Führern, an Schlitten und Pfer 
den zur Verfügung stellten. Immerhin schien die Aufgabe 
schwer. Seit der Große Kurfürst übers Haff gezogen, ward 
kein Feldzug über das Eis mehr gewagt, namentlich keiner 
mit modernem Troß, mit schwerem Geschütz und gefüllten 
Protzen, mit Lastkraftwagen und all den Notwendigkeiten 
eines Nachschubs in ein, wie man doch wußte, ausgeraubtes 
und armes Land. Man erkundete das Eis. Wohl war es 
schon am 17. Februar etwa 25 Zentimeter dick und wuchs 
bei der anhaltenden Kälte von 16 bis 18 Grad täglich um 
2 bis 3 Zentimeter. Allein es gab bei wechselnder Strömung 
immer wieder Hohlräume zwischen dem Wasser und der 
nicht glatt, sondern sehr ungleichmäßig in Schollenbildung 
gefrorenen Eisdecke, so daß sich lange Spalten und Risse 
bildeten, die sich bei starker Kolonnenbelastung vermehrten. 
Zu Längsrissen traten Querspalten, so daß die Eisfläche 
schließlich in Fliegerphotographien maschenartig geädert er 
schien. Am 20. Februar, noch um einen Tag früher, als 
es geplant war, begann von der Mooninsel der Vormarsch. 
Die eine Kolonne, die nördlich über die Insel Schildau nach 
Osten marschierte, hatte 7, die zweite südlicher auf Werder 
Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/18. 
Nach einer Oripinalzeichnung des auf dem türkischen Krieg 
schauplatz zugelassenen Kriegsmalers Fritz Growmeyer. 
losgehende Abteilung 8 Kilometer Fußmarsch über das Eis 
zum Festland. Aber in derselben Nacht vom 20. zum 
21. Februar brachen auch drei Kolonnen von Dagö auf, 
die, zum Teil über die Insel Worms, 20, 22 und 32 Kilo 
meter Eismarsch zu überwinden hatten. Eine helle, kalte 
Mondnacht begünstigte ihren Zug. Es war für Menschen 
und Tiere eine vollkommen ungewohnte, schwere Leistung. 
Hie und da brach ein Gespann ein und versank. Immer 
gelang es, die Bespannung und die Besatzung sofort zu 
retten, und heute, nachdem die Pioniere auch eine 9 Meter 
tief zum Meeresboden versunkene schwere Kanone wieder 
gehoben haben, kann das Nordkorps stolz berichten, daß es 
mit Verlust nur eines einzigen Fahr 
zeuges das schwere Werk vollbracht 
hat. Es war gewaltig anstrengend, 
Menschen und Tiere dampften, als 
sie die Eisesglätte überstanden hat 
ten und aufs Festland kamen, aber 
unverzüglich ging es weiter. 
Die Hauptmacht legte 35 bis 
40, die Radfahrervorhut 70 Kilo 
meter an diesem ersten Tage zurück. 
Ein frischer Drang beseelte alle, sie 
wußten, es galt Rettung zu brin 
gen, und so gaben Württemberger, 
Bayern und Sachsen, Branden 
burger, Rheinländer und Westfalen 
ihr Bestes. Schon am Morgen 
wurde von der Moongruppe Leal 
besetzt; dort hörte die Führung aus 
einem aufgefangenen Telephon 
gespräch von Hapsal nach Pernau, 
daß die Nordgruppe Hapsal er 
reicht und besetzt hatte. Die Deut 
schen in Leal, die schon die ganze 
Zeit so viel für unsere durchkom 
menden deutschen Kriegsgefange 
nen geleistet hatten, begrüßten ihre 
Befreier mit rührender Freude, 
auch die estnischen Bauern bezeig 
ten laut und offen ihre Genug 
tuung, von ihren Bedrückern erlöst 
zu werden. Die Besatzung des 
westlichen Estlands, Matrosen, 
flohen, wo immer die deutsche 
Truppe erschien. Glatt ging der 
Marsch vorwärts. Am 23. Februar 
störten ihn riesige Schneemassen auf 
den verwehten Straßen. Die Kraft- 
wagen konnten nicht mehr mitkom 
men, alles wurde auf Schlitten ge 
setzt; es mußte gehen. Die Revaler 
Marimalistenzeitungen ermunter 
ten zu scharfem Widerstand. Bei 
dem inmitten großer Laubwaldun- 
gen am See herrlich gelegenen 
Schlosse Lodensee und bei dem 
Stackelbergschen Gute Niesenberg, 
das um das Jahr 1500 jenem Jo 
hann llrküll gehörte, den der kur- 
ländische Dichter und bekannte Li 
terat Karl Stavenhagen in seinem 
Trauerspiel verherrlicht hat, kam es 
zu kleinen Gefechten. Nach der 
Station Kegel der Reval-Hapsaler 
Bahn hatten die Bolschewik! einen 
Zug mit mehreren hundert Ma 
trosen Besatzung zur vorgeschobe 
nen Verteidigung Revals entsandt, 
aber unsere Infanterie wartete gar 
nicht erst ab, bis die eigene Artillerie 
zum Eingreifen kam; ein schneidiger 
Sturmangriff nahm den Zug mit 
seiner Artillerie und seinen zahl 
reichen Maschinengewehren. Der 
Feind hatte schwere Verluste, ein 
paar hundert Gefangene blieben in 
unserer Hand. Noch in der Nacht 
des 24. Februars überrannte man 
die große, permanenteBefestigungs- 
linie, die in weitem Bogen um Reval herumführt, und be 
freite bei dem kleinen Sommerfrischenflecken Nömme, wo 
im Sommer etwa fünftausend Gäste Erholung suchen, und 
der berühmt ist wegen seiner alten Kiefernwälder und weil 
es dort die gefürchteten estländischen Nebel nichts gibt, 
800 Österreicher und Ungarn sowie 12 Deutsche aus ihrem 
Kriegsgefangenenlager (stehe die Bilder Seite 219). 
Am 25. Februar — die Truppe hatte in fünf Tagen 
ohne Ruhepause über 150 Kilometer zurückgelegt — trat 
man konzentrisch vom Osten, Süden und Westen mit vor 
geschobenen Radfahrern sowie Kavallerie und Artillerie den 
letzten Marsch auf Reval an, mit dem Befehl, unter allen
	        
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