Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

58 Der dritte Abschnitt der Jugendgeschichte. 
in die Philosophie eingeführt, um damit die moralische Freiheit des 
Menschen zu beweisen, nämlich den Schluß vom Sollen aufs Können. 
Das heißt: zahlen Sie nicht gutwillig, so wird der Wechsel eingeklagt. 
Sie sehen, daß man wohl ein Philosoph sein kann, ohne deshalb ein 
Narr zu fein." 1 
Er siegte vollständig. Binnen zehn Monaten wurden seine Wechsel 
mit 9400 Thalern eingelöst. Freilich hat er einige Jahre später diese 
Summe großentheils wieder verloren, da er sie auf den Rath eines 
Freundes in mexikanischen Scheinwerthen anlegte, ein Verlust, den er 
bis an das Ende seines Lebens gespürt hat. Doch ist es ihm gelungen, 
durch weise Sparsamkeit ohne alle Kargheit und durch kluge finanzielle 
Maßregeln seine Mittel so gut zu verwalten, daß sich tm Lauf der 
Jahre seine Einkünfte verdoppelt haben. 
2. Das Zerwürfniß der Geschwister. 
Eine sehr traurige Folge jenes ökonomischen Unglücks war ein 
Bruch mit der Schwester, der über zehn Jahre gewährt hat. Adele 
Schopenhauer stand zwischen der Mutter und dem Bruder, dem sie 
mit zärtlicher Liebe zugethan, auch in mancher Hinsicht geistesverwandt 
war, aber ihre Lebensanschauungen liefen einander zuwider. Daß man 
von ihm als einem Gottes' und Menschenvcrächter sprach, empfand sie 
höchst schmerzlich; sie theilte weder seine unpatriotische Gesinnung, denn 
sie liebte ihr Vaterland, noch weniger seinen Unglauben und seine 
Misanthropie, obwohl sie über manche Scheinwerthe der kirchlichen 
Religion und des geselligen Weltverkehrs keineswegs verblendet war. 
Wenn sie sein Werk las und auf Stellen traf, die ihren Gefühlen 
und Ansichten völlig widerstritten, so legte sie das Buch weg, „aus 
Feigheit", wie sie ihm schrieb, denn sie scheue den Schmerz der Ver 
schiedenheit. Voller Freude theilte sie ihm mit, daß Goethe sein Buch 
lese und lobe, daß er es eifrig und gründlich lesen wolle, auch gewisse 
Stellen, die ihm besonders Wohlgefallen, angestrichen habe;^ neuerdings 
aber sei er unterbrochen und auf das Gebiet der Politik abgelenkt 
worden, denn die Ermordung Kotzebues habe ihn bis ins Innerste 
erschreckt und empört. Adele Schopenhauer war, wie schon erwähnt, 
1 Vgl. Gwinner. S. 205—220. — 2 Auf dem „beiliegenden" Zettel stand: 
„pag. 320. 321. — 440. 441. Goethe". Die beiden Stellen sind aus dem 3. und 
4. Buch; die erste betrifft die Anticipation der Schönheit und des Ideals vermöge 
der genialen Anschauung des Künstlers, die zweite die Lehre vom erworbenen 
Charakter. Grisebach VI. S. 191.
	        
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