Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

50 Der dritte Abschnitt der Jugendgeschichte. 
in reiner begierdeloser Anschauung vorzustellen und abzubilden, ist die 
Sache des Genies, der Kunst und des Künstlers. Die Wesenseigen 
thümlichkeit der Erscheinung als Gegenstand der künstlerischen An 
schauung nennt Schopenhauer „die platonische Idee". Hier greift 
die platonische Grundansicht, die zweite jener beiden oben erwähnten Grund- 
überzeugungen, in seine Lehre ein: auf der idealistischen beruht seine 
Erkenntnißlehre, auf der platonischen seine Aesthetik und Kunstlehre. 
5. Aus der secundüren Beschaffenheit des Jntellects und der 
primären des Willens ergiebt sich nun diejenige Folgerung, welche das 
System erst zu einem Ganzen macht und zusammenschließt. Wenn der 
Wille unabhängig ist vom Jntellect, so ist er auch unabhängig von 
Zeit, Raum und Causalität, als welche die Formen des Jntellects 
sind; so ist er auch unabhängig von aller Vielheit und Mannichfaltig- 
keit, als welche nur in Zeit und Raum sein können: demnach hat 
der Wille, der allen Erscheinungen zu Grunde liegt, dieselben trägt 
und bewirkt, den Charakter der All-Einheit. Was unser 
eigenstes innerstes Selbst ausmacht, ist auch das innerste Selbst in 
jeder anderen Erscheinung, ist die alles durchdringende Urkraft, 
das Wesen der Welt, das All-Eine, "Ev xai xäv. Jetzt heißt das 
Thema: „Die Welt als Wille". Die Ausführung desselben ist 
nicht Erscheinungs- und Erkenntnißlehre, sondern Wesens- oder 
Principienlehre, d. h. Metaphysik. 
6. Die Erkenntniß aber, daß wir nicht, wie es den Anschein hat, 
getrennte Individuen, deren jedes für sich besteht, sondern in Wahrheit 
ein einziges Wesen sind, bricht den Einzelwillen, den Egoismus, die 
Selbstsucht, mit einem Worte die Bejahung des Willens zum Leben, 
und hat die Verneinung desselben zu ihrer Folge: die Selbstverleugnung, 
die völlige Weltentsagung, mit einem Worte diejenige Umwandlung 
des Charakters, welche das Wesen aller ächten Moral und Religion 
ausmacht. Erst dadurch kommt das Heil und die Heiligkeit in die 
Welt. Vorher herrschen in ihr Unheil und Uebel. Hier ist die Stelle, 
welche in der Lehre Schopenhauers den Pessimismus begründet. Die 
Erkenntniß des Guten gründet sich auf die des Wahren: die Ethik 
auf die Metaphysik. 
7. Die pantheistische Lehre von dem All-Einen und dessen Entfaltung 
in der Welt und dem Stufengange der Dinge ist uralten Stammes: 
es ist die altindische Lehre vom Brahma (Brahm) als dem Ursein, 
welches identisch ist mit der Weltseele (Ätman) und unserem eigenen
	        
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