Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

Neue Werke und neue Wanderjahre. 
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gängig den Charakter der Erscheinung oder Vorstellung hat. Was 
liegt den Erscheinungen zu Grunde? Was ist, kantisch zureden, „das 
Ding an sich?" das wahrhaft Reale? Diese Frage fällt zusammen 
mit dem Grundthema aller Metaphysik, mit dem Räthsel des Daseins: 
sie enthält das Problem, welches Kant in seiner Tiefe erfaßt und 
richtig gestellt, aber nicht gelöst, nicht zu Ende gedacht habe, auch keiner 
nach ihm, ausgenommen Schopenhauer allein. 
Was in uns dem Jntellect zu Grunde liegt, denselben macht. * 
hervortreibt und steigert, ist der Wille: dieser Primat des Willens^ 
in uns ist die unmittelbarste und gewisseste aller Thatsachen; der Jn 
tellect ist die Function des Gehirns und die Frucht des Willens. ; 
Wenn aber unsere Erkenntniß ein organisches Product ist, welches im 
Willen wurzelt, so leuchtet mit zwingender Nothwendigkeit ein: daß 
der Wille nicht bloß die Erkenntniß, sondern auch das Erkenntniß 
organ hervorbringt, daß er nicht bloß motivirend, sondern auch or- 
ganisirend verfährt, was er, wie sich von selbst versteht, nicht als 
Willkür oder mit Ueberlegung, sondern nur als blinder oder bewußt 
loser Wille vollbringen und leisten kann. Unser Leib ist demnach eine 
Willenserscheinung oder, wie Schopenhauer sich ausdrückt, eine „Willens- ° 
objectivation"; der Leib ist das unmittelbare, der Jntellect das mittel 
bare (nämlich durch die Organisation vermittelte und bedingte) Willens- 
product. Der Wille zu leben, auf diese bestimmte Art, unter diesen 
gewissen Bedingungen zu leben und leben zu müssen: dieser Wille ist 
es, der die Organe gestaltet, den Lebensbedingungen anpaßt, verändert 
und durch Abstammung (Vererbung) und Anpassung neue Lebensformen 
oder Arten hervorruft, wie der französische Naturforscher de la Marck * 
in seiner »Zoologie philosophique« (1809) und fünfzig Jahre später 
Charles Darwin in seinem epochemachenden Werk: „Von der natür 
lichen Entstehung der Arten" dargethan haben. La Marck hat auf die >4. 
Ausbildung der Lehre Schopenhauers einen bemerkenswerthen Einstuß 
ausgeübt, wogegen er Darwins Werk, welches er kurz vor seinem Tode 
las, nicht zu würdigen gewußt hat. (Er hat es wohl nur obenhin 
gelesen oder aus Berichten in den Times kennen gelernt, da er „platten 
Empirismus" und eine bloße Variante der Lehre La Marcks darin 
erblickte.) 
4. Wenn nun in jeder Erscheinung sich eine bestimmte Willens 
art darstellt oder objectivirt, so enthält jede ihr eigenes Thema, ihre 
Wesenseigenthümlichkeit, ihr charakteristisches Was (xö u sau): dieses 
Fischer, Gesch. d. Philos. IX. 2. Ausl. N. A. 4
	        
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