Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

Neue Werke und neue Wanderjahre. 
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der Schrift eines Gegners gedacht mit der sehr beherzigenswerthen Be 
merkung: „Professor Pfaff sandte mir sein Werk gegen die Farben 
lehre nach einer den Deutschen angeborenen Zudringlichkeit." 
Als er Schopenhauer drei Jahre später (den 19. und 20. August 
1819) zum letztenmal sah, bemerkte Goethe in den Annalen: „Ein 
Besuch Or. Schopenhauers, eines meist verkannten, aber auch schwer 
zu kennenden jungen Mannes, regte mich auf und gedieh zur wechsel 
seitigen Belehrung". 
3. Die Entstehung des Hauptwerks. 
Schopenhauer pflegte sein System gern mit einem Krystall zu 
vergleichen, der strahlenförmig zusammenschießt, sogar mit der hnndert- 
thorigen Thebe, deren Eingänge sämmtlich auf einen und denselben 
Mittelpunkt Hinweisen. Gewisse Anschauungen, die sonst weit von 
einander abstehen, hatten sich in ihm zu Grundüberzeugungen befestigt 
und allmählich ohne Künstelei dergestalt in seinem Kopfe vereinigt, 
daß sie zu seiner eigenen Ueberraschung aus einem einzigen Grund 
gedanken hervorgingen. So entwickelte sich eine Gedankenkette, „die 
nie zuvor in eines Menschen Kopf gekommen war". Schon im Jahre 
1813 hatte er das Gefühl, daß er den Embryo eines völlig originellen 
Systems in sich trage. 
1. Zwei Grundüberzengungen hatte er den Göttinger Anregungen 
gemäß aus seinen akademischen Studien gewonnen: die erste stammte 
aus Kant, die andere ans Plato. Er hatte die kantischen Haupt 
schriften gründlich gelesen und sich angeeignet, insbesondere die Vernunft 
kritik, die er aber noch nicht in ihrer ursprünglichen Form, sondern 
nur in der zweiten Auflage kannte, worin sich der Text fünfzig Jahre 
hindurch (1787 — 1838) fortgepflanzt hat. Nachdem er dieses Buch 
durchdrungen, war ihm zu Muthe, wie dem Blinden nach einer ge 
lungenen Staaroperation. Seitdem stand ihm unwideruflich fest, daß 
unsere Sinnenwelt durchaus nichts anderes als Erscheinung oder Vor 
stellung, daß sie durchaus phänomenal oder ideal sei. Diese Ueber 
zeugung nannte er seine kantische oder „idealistische Grundansicht". 
Das Thema derselben ist „die Welt als Vorstellung". 
Unsere Sinnenwelt ist ein Product aus zwei Factoren: ihr Stoff 
besteht in unseren Sinneseindrücken oder Empfindungen und ist daher 
„sensnal", ihre Ordnung in Zeit, Raum und Causalität, welche die 
Formen unseres Jntellects sind, dieser aber ist die Function des Ge-
	        
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