Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

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Der dritte Abschnitt der Jugendgeschichte. 
ahndet, daß sich aus den Antworten das Entsetzlichste für ihn ergeben 
wird. Aber da tragen die meisten die Jokaste in sich, welche den 
Oedipus um aller Götter willen bittet, nicht weiter zu forschen, und 
sie gaben ihr nach, und darum steht es auch mit der Philosophie noch 
immer, wie es steht." 1 
Nachdem er auf Goethes Zustimmung oder wenigstens gutacht 
liche Meinung sieben Monate hindurch vergeblich gehofft hatte, endete 
die Sache für Schopenhauer mit einer sehr bitteren Enttäuschung, die 
er Goethen gegenüber zwar nicht verhehlt, aber bemeistert hat. Viel 
leicht ist der Dank und die Ehrfurcht, die Goethen gebühren, nie schöner 
und stolzer ausgesprochen worden, als in den folgenden Worten: „Ew. 
Excellenz haben es in Ihrer Biographie gesagt", schrieb er den 7. Febr. 
1816: „«so ist doch immer das Finale, daß der Mensch auf sich zurück 
gewiesen wird»". „Auch ich muß jetzt schmerzlich ausseufzen: «ich trete 
die Kelter allein»." „Nach so langer Zeit, so vielem Schreiben auch 
nicht einmal Ihre Meinung, Ihr Urtheil zu erfahren, nichts, gar 
nichts als ein zögerndes Lob und ein leises Versagen des Beifalls 
ohne Angabe von Gegengründen: das war mehr als ich fürchten, 
weniger als ich je hoffen konnte. Indessen bleibe es ferne von mir, 
gegen Sie mir auch nur in Gedanken einen Vorwurf zu erlauben. 
Denn Sie haben der gestimmten Menschheit, der lebenden und kom 
menden, so Vieles und Großes geleistet, daß alle und jeder, an dieser 
allgemeinen Schuld der Menschheit an Sie, mit als Schuldner be 
griffen sind, daher kein Einzelner in irgend einer Art je einen An 
spruch an Sie zu machen hat. Aber wahrlich, um mich bei solcher 
Gelegenheit in solcher Gesinnung zu finden, mußte man Goethe oder 
Kant sein: kein anderer von denen, die mit mir zugleich die Sonne 
sahen." 
In Goethes „Tag- und Jahresheften" lesen wir unter dem Jahre 
1816: „vr. Schopenhauer trat als wohlwollender Freund an meine Seite. 
Wir verhandelten manches übereinstimmend mit einander, doch ließ sich 
zuletzt eine gewisse Scheidung nicht vermeiden, wie wenn zwei Freunde, 
die bisher mit einander gegangen, sich die Hand geben, der eine jedoch 
nach Norden, der andere nach Süden will, da sie denn sehr schnell 
einander aus dem Gesichte kommen". Unmittelbar vorher hatte Goethe 
1 Die Vergleichung des Philosophen mit dem Oedipus hatte auch Schiller 
dreißig Jahre früher in seinen „Philosophischen Briefen" gebraucht. Vgl. meine 
Schrift „Schiller als Philosoph". I. Buch: Die Jugendzeit. S. 77.
	        
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