Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

* Die Welt als Wille u. s. f. Bd. II. Cap. XXII. S. 307 ff. 
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Die Kritik der Lehre Schopenhauers. 509 
Erkenntnißobject ist, da es nicht bloß die Erscheinungen macht, sondern 
selbst zu den Erscheinungen gehört, da Zeit und Raum nicht bloß in ihm 
sind, sondern es selbst wiederum in Zeit und Raum: so ist Schopen 
hauer genöthigt, das Gehirn als Gehirnphänomen anzusehen und 
zu behandeln, wobei er immer in denselben circulus vitiosus gerätst. 
Ich finde, daß er nirgends dunkler und verwickelter geredet hat, als 
überall da, wo er uns zeigen will, wie das Gehirn sich selbst zum 
Phänomen des Gehirns macht; er möchte sich und uns überreden, daß 
erst der Jntellect mit seinen beiden Vervielfältigungsgläsern (Zeit und 
Raum) die Vielheit der Dinge macht und die unvergänglichen Typen 
der Willensobjectivationen (Ideen) in die zahllose Fülle unaufhörlich 
wechselnder Individuen verwandelt. Ganz abgesehen von der unbrauch 
baren Vergleichung des Raumes mit einem in zahllosen Facetten 
geschliffenen Glase, wird die Schwierigkeit selbst nicht beseitigt; denn 
auch die Reihe unvergänglicher Typen, der Stufengang der Willens 
objectivationen kann ohne Vielheit und Mannichfaltigkeit, ohne Zeit 
und Raum nicht gedacht werden und setzt dieselben also voraus. 
Die Lehre von Zeit und Raum steht bei Schopenhauer anders 
als bei Kant, obwohl er die transscendentale Aesthetik völlig bejaht 
und stets auf das Höchste gepriesen hat. Niemals hat Kant gelehrt, 
daß unsere Erkenntnißformen bloße Functionen des Gehirns und 
unser Erkenntnißvermögen mit dem letzteren identisch sei. Etwas an 
deres ist organisch bedingt sein, etwas anderes organisch producirt 
werden: jenes hat Kant von der Erkenntniß gelten lassen, nicht aber 
dieses. Daß Gehirn und Jntellect identisch sind, daß unsere An 
schauungen und Begriffe sich zum Gehirn verhalten, wie die Galle zur 
Leber, der Speichel zur Speicheldrüse, der Urin zu den Nieren u. s. f.: 
diese Sätze, die ihm als evidenteste Wahrheiten galten, hat sich Schopen 
hauer auf dem Wege des französischen Sensualismus, unter dem Ein 
flüsse von Cabanis, Bichat, Flourens u. a., zu eigen gemacht? Kant 
hatte ihn von der Apriorität und Idealität der Zeit und des Raumes 
überzeugt; der französische Sensualismus und so viele anschauliche That 
sachen der Erfahrung, die er sich nicht anders deuten konnte, hatten 
ihn überzeugt, daß alle intellectuelle Thätigkeit lediglich Gehirnact 
(Secretion des Gehirns) sei. Nun wollte er beide unverträgliche Lehren
	        
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