Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

474 Schopenhauers kritisches Verhalten zur Philosophie. 
gewissen unerklärten Thatsachen. Durch die Bestimmung jener Grenz 
linie unterscheiden sich in der Philosophie der Idealismus und der 
Realismus: beide Richtungen betreffen das Object, nicht das Sub 
ject des Erkennens. Was die philosophische Betrachtung des letzteren 
angeht, so wird das erkennende Subject, der Jntellect oder Geist, ent- 
weder sür ein ursprüngliches und unabhängiges oder für ein durch 
die leibliche Organisation, also durch die Materie bedingtes Wesen 
erklärt: das erste geschieht durch den Spiritualismus, das zweite 
durch den Materialismus. Demnach bedeutet'etwas ganz anderes 
Idealismus und Realismus, etwas ganz anderes Spiritualismus und 
Materialismus. „Der Gegensatz von Idealismus und Realismus 
betrifft das Erkannte, das Object, hingegen der zwischen Spiri 
tualismus und Materialismus das Erkennende, das Subject. 
(Die heutigen unwissenden Schmierer verwechseln Idealismus und 
Spiritualismus.)" 1 
1. Descartes hat durch sein «6c orauibus dubito» den Glauben 
an die Realität der Außenwelt erschüttert und dadurch das Haupt 
problem der neuen Philosophie gestellt. Seine eigene Lösung dieses 
Problems ist aber auf Grund des Glaubens an die Wahrhaftigkeit 
Gottes so ausgefallen, daß er einen doppelten Dualismus gelehrt 
hat: den zwischen Gott und Welt und den zwischen Geist und Körper. 
Unabhängig von unseren Vorstellungen existiren als Dinge an sich 
Gott, wir selbst als denkende Substanzen, und die Körper außer uns 
als ausgedehnte. Aus diesem doppelten Dualismus folgt eine doppelte 
Unmöglichkeit: 1. die Unmöglichkeit des influxus physicus, d. h. 
die Unwirksamkeit des Körpers auf den Geist, wie die des Geistes 
auf den Körper, also die Unwirksamkeit der natürlichen Dinge über 
haupt; 2. die Unerkennbarkeit der Dinge außer uns. 
2. Diese Consequenzen zieht der tiefsinnige Malebranche: 1. Es 
giebt keinen influxus physicus, es giebt in der Welt (Natur) keine 
wirksamen, sondern nur gelegentliche Ursachen, d. h. Umstände oder 
Bedingungen, ohne welche nichts erfolgt: die Lehre des Occasionalis- 
mus. Die alleinige Wirksamkeit in der wahren Bedeutung des Worts 
übt der göttliche Wille. 2. Auch die Erkenntniß oder Vorstellung 
der Dinge ist nur in Gott möglich; daher der Satz, der den Mittel 
punkt seiner Lehre ausmacht: „Wir sehen die Dinge in Gott". 
1 Parerga I, Skizze u. s. f. S. 14 Anmerkg.
	        
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