Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

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Die Verneinung des Willens zum Leben. 
Gottmenschheit, die optimistische Weltansicht zur pessimistischen, nach welcher 
die Welt als „Jammerthal" erscheint, die eudämonistische Lebens 
anschauung zur asketischen, die falsche Freiheitslehre zur wahren. 
Der Mosaismus ist Gesetzesreligion, die Erfüllung der Gesetze 
wird bedingt oder motivirt durch die Hoffnung auf göttlichen Lohn 
und die Furcht vor göttlicher Strafe, der Lohn aber besteht in der 
langen Lebensdauer, dem irdischen Wohlergehen, Reichthum, Familien 
glück, Kindersegen u. s. f. Dieser Lohn wird erworben durch lauter 
Werke, welche den Gesetzen gemäß, d. h. gerecht sind: daher die 
Werkgerechtigkeit oder der Glaube an die Rechtfertigung durch die 
Werke den Grundcharakter der mosaischen Religion ausmacht. Schon 
hieraus erhellt, daß die menschliche Willensfreiheit in die Freiheit oder 
Willkür der Handlungen (operari) gesetzt wird, also gerade in diejenigen 
Erscheinungen, worin sie schlechterdings nicht besteht, sondern welche 
durchgängig motivirt oder necessitirt sind. So weit die Motive reichen, 
erstreckt sich die Bejahung des Willens zum Leben, und umgekehrt. 
Auch ist es der vollkommenste Widerspruch, das menschliche Dasein für 
das Machwerk eines fremden Willens zu halten und ihm zugleich 
Eigenmächtigkeit und Freiheit zuschreiben zu wollen. Geschaffen sein 
und frei sein, als Prädicate desselben Wesens, sind einander contra- 
dictorisch entgegengesetzt; geschaffene Freiheit oder freie Creatur ist, 
wie die Logiker sagen, ein hölzernes Eisen oder ein eisernes Holz. 
Unter der Voraussetzung der jüdischen Gotteslehre läßt sich das 
Problem der sogenannten Theodicee niemals lösen; vielmehr ist es ganz 
unmöglich, mit der Güte Gottes die Uebel und Leiden in der Welt, mit 
der Allmacht und Allwissenheit Gottes die menschliche Freiheit zu 
vereinigen. 
In allen Punkten, die wir genannt haben, ist nun das echte 
Christenthum das entschiedene Gegentheil des Judenthums. In der 
Glaubens- und Lebensrichtung des Urchristenthums herrscht die Askese, 
die Willensverneinung und das Quietiv. Jesus selbst hat in der 
Bergpredigt nicht bloß die im Geiste Armen und die nach Gerechtigkeit 
Hungernden selig gepriesen, sondern die wirklich Armen und Hungernden. 
Schopenhauer beruft sich hier auf die «r.z<&ypi» im Lukas und auf 
die Erklärung, welche Strauß von der asketischen Bedeutung dieser 
Worte gegeben habe; desgleichen auf die Parabel vom reichen Mann 
und armen Lazarus, der zufolge jener nicht wegen seiner Sünden, 
sondern bloß wegen seines Reichthums in die Hölle, dieser aber nicht
	        
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