Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

434 Das Fundament der Ethik als deren zweites Grundproblem. 
ein viertes Ziel geben? Dieses könnte nur sein das eigene Wehe, 
nicht um es zu vermeiden, sondern um es auf sich zu nehmen und zu 
tragen. Aber dieses Ziel liegt schon jenseits der Bejahung des Willens 
zum Leben und erscheint erst nach dem Aufgange des Qnietivs. Eine 
so scharfe Grenzlinie scheidet die Bejahung des Willens zum Leben 
von der Verneinung. 
Da unsere Gesinnungen dem Erkennen vorhergehen und keineswegs 
aus ihm folgen, so lernen wir unseren Charakter und dessen Willens 
beschaffenheit erst ans den Thaten kennen, welche ihn offenbaren. Was 
geschehen ist, läßt sich nicht mehr ungeschehen machen: das steht fest 
und ist unumstößlich gewiß. Diese aus unseren Thaten uns unmittelbar 
einleuchtende Gewißheit unseres moralischen Wesens ist das Gewissen, 
welches daher erst nach der That redet, d. h. richtet, unausbleiblich 
und unfehlbar. Sein durchgängiges Thenia ist der eigene empirische 
Charakter: „Du hast so gehandelt, weil du so bist!" Aus den Thaten 
der Gerechtigkeit und Menschenliebe folgt ein zufriedenes, aus denen 
des Egoismus und der Bosheit ein unzufriedenes Gewissen: jenes 
heißt das gute, dieses das böse Gewissen: das Vorgefühl des 
letzteren ist die Gewissenssnrcht; die Stimme, womit es nach 
unerhörten Thaten der Bosheit und Grausamkeit redet, ist die 
Gewissensangst, wie dieselbe Schiller in Franz Moor, Shakespeare 
in Richard III. geschildert hat. Richards Worte: „O feig Gewissen, 
wie du mich bedrückst!" kennzeichnen die Gewissensangst. Hamlets 
Worte: „So macht Gewissen Feige aus uns allen!" kennzeichnen die 
Gewissensfurcht. 
II. Das Mitleid als Fundament der Ethik. 
1. Der metaphysische Grund des Mitleids. Rousseau. 
Das gute Gewissen ist die Folge der durch Thaten bewährten 
Gerechtigkeit und Menschenliebe. Was ist deren Grund und Quelle? 
In diese Frage zieht sich das Problem zusammen, welches Schopen 
hauer das Fundament der Moral genannt hat. Das Thema jener 
beiden Tugenden ist das fremde Wohl und Wehe, wenn uns dasselbe 
so, wie unser eigenes, am Herzen liegt, wenn wir es so lebhaft, wie 
die betroffenen Personen selbst, empfinden. Aus einem solchen lebendigen 
und tiefen Mitgefühl entspringen nothwendig und unmittelbar die 
moralischen Triebfedern der Gerechtigkeit und Menschenliebe.
	        
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