Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

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Die Gerechtigkeit in der Welt. 
2. Gewalt und List. 
Das Unrecht, d. i. die Verneinung des fremden Willens, geschieht 
durch Gewalt und durch List. Der Leib als die unmittelbare Erscheinung 
des Willens ist der Gegenstand des gewaltthätigen Unrechts, dessen 
drei Stufen der Kannibalismus, der Mord und die thätliche 
Mißhandlung sind; die gewaltsame Aneignng des fremden Eigen 
thums ist der Diebstahl. Das durch List verübte Unrecht äußert 
sich als Arglist, Tücke, Treulosigkeit, Betrug, Verrath und Vertrags 
bruch, in welchem letzteren diese Art des Unrechts gipfelt. Die Grund 
form alles listigen Unrechts ist die Lüge. Um den fremden Willen 
zu verneinen, nimmt sie den Umweg durch den Jntellect desselben, den 
sie verfälscht und täuscht, indem sie durch Scheinmotive, die sie ihm 
vorhält, den Willen des anderen nöthigt, zu seinem eigenen Nachtheil 
zu handeln. Diese Art der Lüge ist unter allen Umständen nichts 
würdig und empört das natürliche Rechtsgefühl. Dazu kommt, daß 
sie aus Furcht die Gefahr der offenen Gewaltthat vermeidet; daher 
der Vorwurf der Lüge nicht bloß den des Unrechts in sich schließt, 
sondern auch den der Feigheit. 
In der Abwehr und Verhinderung des Unrechts besteht das Recht. 
Diese Abwehr ist das Recht der Nothwehr: die gewaltsame Noth 
wehr ist das Zwangsrecht, die listige die Nothlüge, deren Aus 
übung mit vollem Rechte geschieht, was Kant aus einem falschen 
Pflichtbegriff bestritten habe. Auch unberechtigte, zudringliche, aus 
spähende und spionirende Fragen darf man mit vollem Rechte so beant 
worten, daß der Frager getäuscht und auf falsche Führte gelenkt wird. 
3. Der Staat und das Staatsrecht. 
Aus der Bejahung des Willens zum Leben folgt, daß niemand 
Unrecht leiden will, alle daher verhindert werden müssen, Unrecht zu 
thun, was durch die Vereinigung aller zur Errichtung einer Gewalt 
bewirkt wird, welche das Unrecht abwehrt und verhindert, das Recht aber 
schützt und sichert. Dieser öffentliche Rechtszustand, worin Recht und 
Gewalt stets mit einander sind und zusammenwirken, ist der Staat, 
dessen Ursprung im Staatsvertrage, dessen Zweck in der allgemeinen 
Sicherheit, und deflen Verfassung in der Dreieinigkeit der gesetz 
gebenden, regierenden und richtenden Gewalt besteht. 
In dem vorstaatlichen Zustande bilden die Menschen keine Gesell 
schaft, sondern einen Haufen Wilder oder Sklaven, je nachdem die
	        
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