Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

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Die Bejahung des Willens zum Leben. 
Sechszehntes Capitel. 
Nie Gejahung des Willens zum Leben. Das Elend des menschlichen 
Daseins und dessen Fortpflanzung. 
I. Das leidensvolle Dasein. 
Ob die Selbsterkenntniß des Willens als Motiv oder als Quietiv 
wirkt, ob auf dieselbe die Bejahung oder die Verneinung des Willens 
zum Leben, das Wollen oder Nichtwollen des letzteren erfolgt: darin 
besteht die tiefste Grundfrage der Ethik. Den Willen zum Leben be 
jahen heißt vor allem den eigenen Leib bejahen, der die unmittelbare 
Erscheinung unseres Willens und ein „Concrement von tausend Be 
dürfnissen" ausmacht. Das erste und nächste Thema der Willensbejahung 
ist daher die Erhaltung und Fortpflanzung des Individuums, das Dasein 
der Person und der Gattung. Wir müssen so deutlich wie möglich 
erkennen, was unser Dasein ist und nothwendigerweise aus ihm folgt: 
was alles durch die Bejahung des Willens zum Leben unmittelbar 
oder mittelbar mitbejaht wird. Worin besteht unser Loos in der Welt? 
Alles Wollen ist Streben, dieses aber entspringt aus dem Gefühle 
eines Mangels, also aus einer Unzufriedenheit oder einem Zustande des 
Leidens. Es wird immer etwas erstrebt. Wird dieses Ziel erreicht, so ent 
stehen neue Ziele und neue Wünsche: es giebt, so weit sich die Dauer 
des Daseins erstreckt, kein letztes endgültiges Ziel, daher ist das Streben 
ziellos und, die Augenblicke der Befriedigung abgerechnet, stets un 
befriedigt. Wie das Streben, nimmt auch das Leiden kein Ende: es 
ist daher maßlos. Bleiben die Wünsche aus, so wird unser Dasein 
leer und langweilig; bleiben die Befriedigungen aus, so fühlen wir 
schmerzlich die Hemmungen unseres Daseins; das relativ glückliche Leben 
besteht in dem -schnellen Uebergange vom Wunsch zur Befriedigung, und 
da die letztere nie von Dauer ist, so wechseln in unserem Leben eigentlich 
nur die Zustände des Leidens. 
Nur diese werden gefühlt, das Wohlsein dagegen wird durch die 
Dauer immer ungefühlter und genußloser, wie wir z. B. die Gesund 
heit zwar schmerzlich vermissen, wenn wir sie entbehren, aber gar nicht 
fühlen, so lange sie fortdauert; es sei denn, daß wir unserer vergangenen
	        
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