Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

Die Grundfrage und das erste Grundproblem der Ethik. 405 
Unsterblichkeit des Jntellects; die falsche Auslegung des Gefühls unserer 
Freiheit ist die Lehre von der Freiheit unseres empirischen Charakters 
und unserer willkürlichen Handlungen. 
Die Frage nach der Vereinbarkeit und dem Zusammenbestehen 
von Freiheit und Nothwendigkeit ist gelöst, und zwar hat Kant, wie 
in der Erkenntnißlehre, so auch in der Moral den Punkt des Archi- 
medes gefunden: er hat die Lehre vom empirischen und intelligibleu 
Charakter festgestellt und von dem Verhältniß beider eine Darstellung 
gegeben, „welche zum Schönsten und Tiefgedachtesten gehört, was dieser 
große Geist, ja was Menschen jemals hervorgebracht haben". „Wie 
bei ihm die vollkommene empirische Realität der Erfahrungswelt 
zusammenbesteht mit ihrer transscendentalen Idealität, ebenso 
die strenge empirische Nothwendigkeit des Handelns mit dessen 
transscendentaler Freiheit." 
Diese Lehre läßt sich nicht kürzer aussprechen, als sie Schopenhauer 
am Schluß seiner ersten (in Drontheim gekrönten) Preisschrift gefaßt 
hat: „Der Mensch thut allezeit nur, was er will, und thut es doch 
nothwendig. Das liegt aber daran, daß er schon ist, was er will: 
denn aus dem, was er ist, folgt nothwendig alles, was er jedesmal 
thut. Betrachtet man sein Thun objective, also von außen, so erkennt 
man apodiktisch, daß es wie das Wirken jedes Naturwesens, dem 
Causalitätsgesetze in seiner ganzen Strenge unterworfen sein muß; 
subjective hingegen fühlt jeder, daß er stets nur thut, was er will: 
Dies besagt aber bloß, daß sein Wirken die reine Aeußerung seines 
selbsteigeneu Wesens ist. Dasselbe würde daher jedes, selbst das niedrigste 
Naturwesen fühlen, wenn es fühlen könnte. 111 
1 Schopenhauer: Die Leiden Grundprobleme der Ethik (1841). Ueber die 
Freiheit des menschlichen Willens. V. Schluß und höhere Ansicht. S. 88 — 97. 
Ueber Kants Lehre vom intelligibleu und empirischen Charakter vgl. meine 
Geschichte der neuern Philosophie (3. Aufl. 1880). Bd. III. Buch II. Cap. XIII. 
S. 496-498. Bd. IV. Buch I. Cap. VII. S. 89-98. Buch II. Cap. IV. 
S. 310-312. — Vgl. meine Proreetoratsrede „Ueber die menschliche Freiheit" 
(Heidelberg 1888).
	        
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