Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

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Der Uebergang zur Ethik. 
der individuelle und angeborene, wie derselbe im vollen Lichte des 
Bewußtseins erscheint und sich äußert. Jetzt erst sind wir über unsere 
Gesinnungen und Absichten, über unsere Anlagen und Kräfte, über 
deren Richtung und Maß im Klaren; wir haben die gesellschaftlichen 
Zustände und Atmosphären kennen gelernt, erprobt und meiden die uns 
irrespirabeln Einflüsse; wir sind in der Welt und in uns selbst ein 
heimisch geworden und spielen nun in dem Drama des Lebens mit 
Geschick und Klugheit die uns bestimmte und angemessene Rolle. Da 
rum gilt auch von dem eigenen Charakter wie von dem fremden das 
Wort des Schillerschen Wallenstein: „Hab' ich des Menschen Kern erst 
untersucht, so weiß ich auch sein Wollen und sein Handeln". 
Nach allen diesen Feststellungen ist nunmehr ausgemacht, daß alle 
menschlichen Handlungen die nothwendigen Folgen der Willensbeschaffen 
heit oder des empirischen Charakters, also durchgängig determinirt sind; 
daß alle Veränderungen, so wichtig sie sind und erscheinen, nicht den 
Charakter, sondern nur die individuellen Erkenntnißzustände und deren 
Umfang betreffen. Es ist nicht wahr, was die gewöhnliche Moral 
auf der Grundlage der rationalen Seelenlehre und der falschen Vor 
aussetzung vom Primate des Jntellects lehrt: daß der Mensch will, 
was er erkennt. Vielmehr gilt der entgegengesetzte Satz, gestützt auf 
den Primat des Willens: der Mensch erkennt, was er will. 
Von seinen Vorgängern in Ansehung des Determinismus nennt 
Schopenhauer den heiligen Augustin in seiner antipelagianischen Schrift 
«De natura et gratia», den Dante, der im dritten Theil seines großen 
Gedichtes behauptet, daß der Mensch zwischen zwei gleich verlockenden 
Speisen verhungern müsse (welches Gleichniß später auf den Esel 
zwischen zwei Wiesen übertragen worden sei), unseren Luther «De servo 
arbitrio»; unter den neueren Philosophen nennt er Hobbes in seinen 
«Quaestiones de libertate et necessitate», Spinoza in seiner Ethik, 
Voltaire in seinen späteren Schriften «De philosophe ignorant» und 
«Le principe d’action»; insbesondere aber Humes «Essay on liberty 
and necessity», Priestleys «Doctrine of philosophical neccessity», 
und vor allen Kant in seiner tiefsinnigen Lehre vom empirischen und 
intelligiblen Charakter, die er in seinen Kritiken der reinen und der 
praktischen Vernunft dargelegt habe, und welcher Schelling in seiner 
Schrift von der menschlichen Freiheit (1809) gefolgt sei? 
1 Ebendas. I. § 55. S. 337—362. Vgl. die beiden Grundprobleme der 
Ethik (1841). Preisschrift über die Freiheit des Willens. I—III. S. 1—63. 
IV. Vorgänger. S. 64-87. (Frauenst. Ausg. -fBd. IV. S. 102.])
	        
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