Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

Die Grundfrage und das erste Grundproblem der Ethik. 401 
Dieses Spiel der Velleitäten gleicht dem Wasser, welches sagt: ich 
kann, was ich will; ich kann hohe Wellen schlagen, auch eilenden Laufes 
fortfließen, auch hoch emporsteigen, auch sieden u. s. f. Aber es thut 
von alle dem nichts, sondern bleibt ruhig in seinem Teich, wo es diesen 
Monolog geführt hat. Freilich kann es hohe Wellen schlagen, aber 
nicht im Teich, sondern im Meer und beim Sturm; es kann schnellen 
Laufes forteilen, aber nur im abwärts gerichteten Strombett; es kann 
in hohen Strahlen emporsteigen, aber nur im Springbrunnen, es kann 
sieden, aber nur bei 80° Reaumur u. s. f. 
Alle unsere Handlungen sind determinirt durch den Charakter, d. i. 
unsere Gesinnungs- oder Willensart, und die Wahl der Motive, welche 
selbst von dem Umfange und Grade unserer Erkenntniß, von den 
Umständen und der Lebenslage, worin wir uns befinden, abhängig 
sind. Jeder hat seinen eigenen Charakter: daher ist jeder Charakter 
eigenartig oder individuell, er ist als solcher angeboren, wie aus den 
grundverschiedenen, frühzeitig wahrnehmbaren Gemüthsarten der Kinder 
einleuchtet. Kein Mensch kommt als moralische Null auf die Welt. 
Und wie der Charakter ursprünglich beschaffen ist, so bleibt er: 
auf diese UnVeränderlichkeit oder Constanz des Charakters gründet 
sich alle Menschenkenntniß, alle menschenkundige Berechnung unserer 
Handlungen. Wenn diese Berechnung fehlschlägt, so sind wir weit eher 
geneigt zu sagen: „ich habe mich in diesem Menschen geirrt", als „er 
hat sich geändert". 
Wie der Wille dem Jntellect, das Wollen dem Wissen vorhergeht, 
so ist auch der individuelle Charakter früher, als die Erkenntniß des 
selben. Wir lernen den Charakter nur kennen aus seinen Handlungen, 
die wir erfahren. Als dieses Erkenntnißobject, als der Gegenstand einer 
solchen Erfahrung heißt der individuelle Charakter der empirische; 
und zwar gilt diese Art der Erkennbarkeit nicht bloß von den fremden 
Charakteren, sondern auch von unserem eigenen. Auch sich selbst lernt 
jeder erst aus seinen Handlungen kennen, aus der gewohnten und in 
schwierigen Verhältnissen erprobten Handlungsweise: daher die Un- 
kenntniß und die unzureichende Kenntniß des eigenen Charakters lange 
währt. Sonst würde man nicht so oft hören und sagen: „Ich weiß 
nicht, wie ich in diesem oder jenem Falle handeln werde". 
Auf dem Wege der allmählichen, besonnenen, durch Welterfahrung 
gereiften Selbsterkeuntniß wird der eigene Charakter erworben und 
heißt nunmehr der erworbene Charakter, der kein anderer ist, als 
Fischer, Gesch. d. Philos. IX. 2. Aufl. 31.9t. 26
	        
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