22 Der zweite Abschnitt der Jugendgeschichte.
Eindruck auf alle übrigen macht, die ihn doch länger kennen und ihm
zum Theil auch weit näher stehen als ich. Er selbst ist immer ein wenig
stumm und auf eine Art verlegen, bis er die Gesellschaft recht ange
sehen hat, um zu wissen, wer da ist. Er setzt sich dann immer dicht
neben mich, etwas zurück, so daß er sich auf die Lehne von meinem
Stuhle stützen kann; ich fange dann zuerst ein Gespräch mit ihm an,
dann wird er lebendig und unbeschreiblich liebenswürdig." „Er ist
das vollkommenste Wesen, das ich kenne; eine hohe schöne Gestalt,
die sich sehr gerade hält, sehr sorgfältig gekleidet, immer schwarz oder
ganz dunkelblau, die Haare recht geschmackvoll srisirt und gepudert,
wie es seinem Alter ziemt, und ein gar prächtiges Gesicht mit zwei
klaren, braunen Augen, die mild und durchdringend zugleich sind. Wenn
er spricht, verschönert er sich unglaublich, und ich kann ihn dann nicht
genug ansehen."
Er fühlte sich der Frau Schopenhauer so befreundet, daß er inter
essante Personen, die um seinetwillen nach Weimar gekommen waren,
bei ihr einführte. So lernte sie Bettina Brentano, Goethes jugend
liche Freundin, und Zacharias Werner, den Dichter der „Söhne des
Thals" und der „Weihe der Kraft" in ihrem eigenen Hause kennen,
jene den 1. November, diesen den 23. December 1807?
In welcher Epoche damals Goethes dichterische Kraft und Thätig
keit stand, bekunden uns ihre Werke. Während eines mehrwöcheutlichen
Aufenthaltes in Jena (vom 11. Nov. bis 18. December 1807) entstanden
unter dem Eindruck der in schönster Jugendblüthe prangenden Minna
Herzlieb, der Pflegetochter des Frommannschen Hauses, die Sonette?
Gleichzeitig reifte die Dichtung der „Pandora". Der Plan der
„Wahlverwandtschaften" wurde entworfen, und die Ausführung gedieh
nach einigen Unterbrechungen schnell zur Vollendung, so daß dieser
tief durchdachte, seelenkundige und mit der vollkommensten Meisterschaft
geschriebene Roman noch im Jahre 1809 erscheinen konnte. Ostern
1 Damals lernte auch A. Schopenhauer diesen Dichter kennen. Er schreibt den
3. November 1845 an Becker: „Daß Sie den Werner lesen und also seine Werke
noch leben, freut mich sehr. Er war ein Freund meiner Jugend und hat gewiß
Einfluß und zwar günstigen auf mich gehabt. Im frühen Jünglingsalter schwärmte
ich für seine Werke, und als ich im zwanzigsten Jahre seinen Umgang vollauf
genießen konnte, im Hause meiner Mutter zu Weimar, fand ich mich hochbeglückt."
(Briefwechsel S. 90.) — 2 Vgl. die vierte meiner „Goethe-Schriften" : „Goethes
Sonettenkranz" (Heidelberg 1895.)