Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

Die Grundfrage und das erste Grundproblem der Ethik. 
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III. Die menschliche Willensfreiheit. 
1. Die physische, intellectuelle und sogenannte moralische Freiheit. 
Ob es eine tiefere Welterkenntniß giebt, die das Elend der Welt 
und den Unwerth des Lebens durchschaut und nun nicht mehr als 
Motiv, sondern als Quietiv wirkt, den Willen von der Weltbejahung 
abwendet und von Grund aus umwandelt? Dies ist die Grundfrage 
der Ethik. Eine solche Umwandlung aber setzt ein Vermögen un 
bedingter Willensfreiheit voraus, welcher die Ordnung der gesammten 
Erscheinungswelt widerstreitet. Hier herrscht der Satz vom Grunde. 
Was hier geschieht, folgt aus gegebenen Ursachen. Was aus gegebenem 
Grunde folgt, ist durchaus nothwendig. Wo also bleibt die Willens 
freiheit, die Umwandlung des Willens, die Möglichkeit der Ethik? 
Das erste Grundproblem der Ethik betrifft daher die menschliche 
Willensfreiheit. Um dieses Problem richtig zu erkennen, müssen wir 
die falschen Auffassungen der menschlichen Freiheit, von denen die 
gewöhnlichen Meinungen, zum großen Theil auch die philosophischen 
beherrscht sind, enthüllen und darlegen; wir müssen mit voller Deutlich 
keit sehen, wie weit die Nothwendigkeit unserer Gesinnungen und 
Handlungen, d. h. die Willensdeterminationen sich erstrecken, damit wir 
nicht wähnen, frei zu sein, wo wir es nicht sind und sein können. 
Nach jener falschen Metaphysik, der wir zu wiederholten malen 
begegnet sind, gilt die Seele für ein einfaches denkendes Wesen und 
das Wollen für eine Function des Erkennens: der Mensch will, was 
er erkennt; er kommt in Ansehung des Guten und Bösen völlig in 
different auf die Welt, als moralische Null; er gelangt, wie Herakles 
in der Fabel des Prodikos, an den Scheideweg zwischen Tugend und 
Laster und entscheidet sich nun, wie es ihm beliebt. In diesem völligen 
Gleichgewicht zwischen verschiedenen und entgegengesetzten Richtungen 
besteht die Willensfreiheit oder Willensindifferenz (aequilibrium arbitrii) 
und in ihr die eigentliche moralische Freiheit. 
Eine solche Willensfreiheit existirt in der wirklichen Welt nie 
und nirgends. Jede Wirkung in der Natur ist völlig bestimmt durch 
die Kraft, die sie hervorbringt, und die Ursachen (Bedingungen), auf 
welche sie erfolgt. Die menschlichen Handlungen sind solche Wirkungen: 
sie sind hervorgebracht durch den Charakter des Individuums und 
erfolgen auf die gegebeneu oder gewählten Motive (Ursachen). Alle 
wider diesen Determinismus gerichteten Einwürfe sind unbegründet
	        
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