Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

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Der Uebergang zur Ethik. 
1 Die Welt als Wille u. s. f. Bd. I. Buch IV. § 54. S. 335. 
wenig die Sonne aufhört zu brennen und zu leuchten, wenn sie den 
Erdbewohnern verschwindet, so wenig vergeht der Wille zum Leben, 
wenn die Individuen sterben. Wir sagen: „die Sonne geht unter", 
wenn wir in die Nacht sinken; die Sonne geht nicht unter, sie hat 
weder Morgen noch Abend, sondern ewigen Mittag. So ist auch dem 
Willen das Leben gewiß in beständiger Gegenwart. Das unvergäng 
liche Wesen in uns hat den Tod so wenig zu fürchten, als die Sonne 
den Wechsel von Tag und Nacht. Von diesem unserem unvergänglichen 
Wesen gilt das Wort unter dem Jsisbilde zu Sais: «syü eiju rcäv 
ib 7SY0VÖS, tö ov xai tö laojxsvov«. Unvergänglich ist das ewige 
Weltwesen und das ewige Weltauge. 
Die Todesfurcht ist blind, wie der Wille, aus dem sie stammt 
Wider diese blinde Furcht gewährt die vernünftige und besonnene 
Lebensbetrachtung heilsame Gegengründe: sie überzeugt uns von der 
Feigheit und Unwürdigkeit der Todesfurcht, von der Erhabenheit der 
Todesverachtung. Wir fürchten die Schmerzen und die Leiden, welche 
das Sterben erschweren; aber mit dem Dasein des Individuums hört 
die Empfindung und damit der Schmerz auf, der Tod erlöst uns von 
allen physischen Leiden. Wir fürchten den Verlust unserer Güter. 
Den Verlust fühlen heißt die Güter vermissen oder die Zukunft ohne 
den Besitz derselben vorstellen; aber mit dem Dasein des Individuums 
endet die Thätigkeit des Jntellects, womit alles Vorstellen, Vermissen 
und Verlorenhaben aufhört. Warum also fürchten wir den Tod, da 
wir nie mit ihm zusammentreffen? Wenn der Tod eintrifft, sind wir 
nicht mehr da; solange wir noch da sind, trifft der Tod nicht ein; 
weshalb Epikur treffend sagt: «0 ll«v«Tv? pjSIv ;cpö<; chp,«?». 
Diese Art der Welt- und Lebensbetrachtung anerkennt den Werth 
des Daseins in vollstem Maße und motivirt daher die Bejahung des 
Willens zum Leben. So denken Bruno, Spinoza, Goethe in seinem 
Prometheus: 
Hier sitz ich, forme Menschen 
Nach meinem Bilde, 
Ein Geschlecht, das mir gleich sei, 
Zu leiden und zu weinen, 
Zu genießen und zu freuen sich 
Und dein nicht zu achten 
Wie ich? .
	        
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