Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

Uebergang zur Ethik. Grundfrage und das erste Grundproblem der Ethik. 393 
bloße Form ohne den Stoff, wie eine Geisterwelt ohne Materie."^ 
In dieser Stelle stnden wir die Charakterzüge concentrirt, welche 
Schopenhauers Lehre von der Musik kennzeichnen. 
Fünfzehntes Capitel. 
Der Uebergang ;ur Ethik. Die Grundfrage und das erste Grnnd- 
probtem der Ethik. 
I. Die Selbsterkenntniß des Willens. 
Die Lehre Schopenhauers, so weit wir dieselbe ausgeführt haben, 
summirt sich in dem Satz: die Welt ist der Wille in der vollständigen 
Stufenleiter seiner Objectivationen, deren Gipfel die Selbsterkenntniß 
des Willens ansmacht. Auf dieser Höhe sind wir angelangt Nun 
mehr erscheint die Welt als der Spiegel, in welchem der Wille sich 
erblickt, seine Werke und sein Wesen; am deutlichsten und reinsten er 
kennt er sich in den Gebilden der Kunst, am unmittelbarsten in denen 
der Musik. Die Kunst ist gleichsam die camera obscura der Welt, 
das Schauspiel im Schauspiel, wie im Hamlet. Jetzt erst, da ihm, 
was er ist und schafft, vollkommen einleuchtet, kaun er die letzte und 
wichtigste aller Entscheidungen treffen: die zwischen seiner Selbstbejahung 
und Selbstverneinung. Die Verneinung des Willens zum Leben be 
steht in der völligen Weltüberwindung und Weltentsagung, deren 
Ausdruck die christliche Malerei in dem verklärten Antlitze des Erlösers 
und der Heiligen darstellt; es ist die Willensrichtung, welche die echte 
Tragödie hervorruft und bezweckt. Auf dem Uebergange von der Kunst 
zur Religion, von der Schönheit zur Heiligkeit, vom Genie zur 
Askese, vom vollendeten Können zum reinsten Wollen hat Schopenhauer 
eine Heilige genannt, die von der Kirche als Märtyrer, von der 
Sage als die Schutzpatronin der Musik, von Raphael als ein Genius 
zugleich der Religion und der Kunst verherrlicht und verklärt worden 
ist: die heilige Cäcilie. Die Kunst gewährt uns einen Augenblick 
der Weltvergessenheit, nach welchem uns die Bande der Welt nur um 
so mehr schmerzen: sie kann trösten, aber nicht erlösen.^ 
* Ebendas. Bd. I. § 52. S. 307. II. Cap. XXXIX. S. 514. Parerga 
Bd. II. Cap. XIX. § 223. S. 463. - 2 I. § 52. S. 315-316.
	        
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