Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

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Das Stufenreich der Künste. 
sonderer, in der gewöhnlichen Rede ungebräuchlicher oder unstatthafter 
Ausdrücke sich aneignet, wodurch eine poetische Conventionssprache, 
eine den Ziergärten vergleichbare Ziersprache (begueulerie) entsteht, die 
dem natürlichen Eindruck der Vorstellungen zuwiderläuft. 
Die Aufgabe der poetischen Rede bleibt aber immer, die Begriffe 
durch die Einschränkung ihres Umfanges und ihrer allgemeinen Bedeutung 
dergestalt zu veranschaulichen und zu individualisiren, daß sich das 
Bild der Sache uns vor Augen stellt. So läßt Goethe die Mignon 
das Land ihrer Sehnsucht schildern: 
Kennst du das Land, wo die Citronen blühn. 
Im dunklen Laub die Goldorangen glühn, 
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht, 
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht? 
Es ist auch das Land der Kunst, der schönen Architektur und Sculptur: 
Kennst du das Haus? Auf Säulen ruht sein Dach, 
Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach, 
Und Marmorbilder stehn und sehn mich an u. s. f. 
Was den Inhalt aller poetischen Darstellung betrifft, so giebt sie 
uns das bedeutsame, darum interessante Menschenleben; sie giebt es 
im Bilde, als einen Gegenstand der bloßen Betrachtung, darum auf 
genußreiche und völlig schmerzlose Art. Eben darin besteht der Unter 
schied zwischen Poesie und Wirklichkeit, der Contrast beider: in der 
Wirklichkeit nämlich sind die völlig schmerzlosen Zustände und Erlebnisse 
bedeutungslos und uninteressant; die bedeutsamen und interessanten 
dagegen werden nicht ohne schmerzliche Erregungen und Willens- 
crschütterungen erlebt. Interessant und schmerzlos zugleich sind nur 
die Bilder der Poesie: daher findet man die Welt in der Dichtung 
so viel schöner und behaglicher als in der Wirklichkeit, diese aber, die 
man gewöhnlich später kennen lernt als die Dichtung, so unbehaglich 
und anstoßend. 
Was die Poesie uns darstellt, ist das Allgemeingültige, 
das Wesentliche und Bleibende in dem Zeitlause der einzelnen, mit 
allerhand Zufälligkeiten behafteten Ereignisse: eben darin unterscheidet 
sich die Dichtung von der Geschichte, die ein getreues Abbild der 
einzelnen Begebenheiten liefern soll, während die Poesie deren Idee 
und Bedeutung darstellt. Aristoteles hat diesen Unterschied sehr richtig 
erkannt und darum geurtheilt, daß die Poesie philosophischer sei als 
die Geschichte. Das Thema der Poesie ist gleich dem der Philosophie 
von ewigem Inhalte, das unvergängliche Wesen der Menschheit nach
	        
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