Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

Das Stufenreich der Künste. 
371 
24* 
Herakles bei Sophokles; so würden wir auch den Laocoon in der 
Tragödie schreien hören, wenn uns dieselbe erhalten wäre; so läßt 
Virgil in der Erzählung des Aeneas den Laocoon wie einen Stier 
brüllen u. s. f. 
Wir haben diese Ausführungen zur endgültigen Lösung der 
Laocoonfrage ohne Zwischenrede angeführt, müssen aber schließlich hin 
zufügen, daß alle die angeführten Gründe und Beispiele, so treffend 
sie sind, nicht von Schopenhauer stammen, sondern von Lessing. Es 
ist nicht richtig, daß Lessing aus der Schönheit als dem Principe der 
antiken Kunst den gemäßigten Ausdruck des Leidens im Antlitze des 
Laocoon hergeleitet hat: vielmehr hat er denselben aus dem Wesen 
der plastischen Kunst begründet, aus dem Charakter der bildenden 
Kunst überhaupt im Unterschiede von der redenden. Er hat sein 
Werk genannt: „Laocoon oder über die Grenzen der Malerei und 
Poesie". Diese Grenzen bestehen eben darin, daß im Unterschiede von 
der redenden Kunst Sculptur und Malerei stumme Künste sind. 
Deshalb hat Lessing gegen Winckelmann zum Zeugniß, daß die Poesie 
auch der Alten den schreienden und maßlosen Ausbruch des Schmerzes 
darstellen könne und dargestellt habe, die Beispiele homerischer Götter, 
wie Ares und Athene, Sophokleischer Helden, wie Herakles und Phi- 
loktet, vor allen den Virgilischen Laocoon selbst angeführt: lauter 
Beispiele, welche Schopenhauer nur wiederholt hat. 
Was dieser wohl gesagt haben würde, wenn er sich an der 
Stelle befunden hätte, wo uns hier Lessing ihm gegenüber erscheint? 
Ohue Zweifel würde er sich in recht verächtlichen und wegwerfenden 
Ausdrücken über ein an ihm verübtes Plagiat beklagt haben. Eine 
solche Beschuldigung liegt uns fern. Aber sein Verhalten gegen Lessing 
dient uns zum Beweise, daß er den „Laocoon" nie gründlich gelesen, 
geschweige studirt hat; wahrscheinlich hat er es mit allen kritischen 
Schriften Lessings so gehalten, sich dadurch aber nicht hindern lassen, 
gelegentlich über Lessing obenhin zu urtheilen und abzusprechen. 
Was die Laocoonfrage betrifft, so hat Lessing dieselbe in der 
Hauptsache gelöst: er hat bewiesen, daß der schreiende Ausdruck des 
Leidens sich mit dem Wesen der bildenden Kunst nicht vertrage, da 
er sowohl dem Gegenstände der Plastik, nämlich der Schönheit wider 
streite, als auch über ihr Darstellungsvermögen und dessen Grenzen 
hinausgehe.
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.