Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

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Das Stufenreich der Künste. 
i Ebendas. Bd. I. § 46. II Cap. XXXVI. 
Daher sind es zwei Gründe, welche die Plastik hindern, den schreienden 
Ausdruck des Leidens darzustellen: weil dieser Ansdruck in das Gebiet 
sowohl der unschönen als der lauten Geberdensprache fällt, also das 
doppelte Gegentheil der stummen Grazie ausmacht. 
Hier bietet sich nun der Anlaß, um die vielerörterte Frage, warum 
der Laocoon in der berühmten Gruppe nicht schreit, endlich zum 
Austrag zu bringen: ein Verdienst, welches Schopenhauer für sich in An 
spruch nimmt, nachdem er in seinem Hauptwerk diese Frage zu wieder 
holten malen beantwortet hat? Winckelmann hatte aus dem Wesen 
der antiken Kunst, als welches in edler Einfalt und stiller Größe be 
stehe, das Problem zu lösen gesucht: das Schmerzensgeschrei vertrage 
sich nicht mit der Seelengröße. Lessing dagegen habe aus der Schönheit 
als dem Principe der antiken Kunst die Unverträglichkeit jenes Aus 
drucks mit dem Kunstwerk nachweisen wollen und damit den einen 
Punkt der Lösung richtig getroffen. Goethe im ersten Heft der Propyläen 
habe die Unmöglichkeit des Schreiens aus der Situation des Laocoon 
zu motiviren gesucht, der soeben den Schlangenbiß empfange und nicht 
mehr zu schreien vermöge; endlich habe Hirt diesen Grund noch ver 
stärkt und darauf hingewiesen, daß der Laocoon schon im Sterben sei; 
Fernow aber habe alle diese Gründe zu vereinigen gesucht. 
Der Hauptgrund sei unerkannt geblieben: der Laocoon sei aus 
Marmor, er sei stumm und könne nicht schreien; diese Unmöglichkeit habe 
der Künstler näher durch die Situation motivirt, wie Goethe richtig 
gesehen. Aber dieses Motiv sei secundär, das primäre liege in der 
bildenden Kunst, als welche keine redende, sondern eine stumme Kunst 
sei: diesen primären Grund habe erst Schopenhauer aufgefunden und 
verhalte sich hier, was die Laocoonfrage betreffe, zu Goethes Erklärung 
ganz ähnlich, wie seine Farbenlehre zur Goetheschen. Dazu komme 
der häßliche Ausdruck des Schreiens, der im Mundaufreißen besteht, 
wie in Guido Rems bethlehemitischem Kindermord sechs solche Mund 
aufreißer zu sehen sind; auch lebendige Körper können in der Pantomime 
das Schreien nur durch Mundaufsperren ausdrücken, was einen wider 
wärtigen und lächerlichen Eindruck hervorruft. Dagegen vermögen 
die redenden Künste das Schmerzensgeschrei in seiner ganzen Stärke 
und Entsetzlichkeit auszudrücken: so schreien Mars und Minerva 
bei Homer, wenn sie verwundet sind; so schreien Philoktet und
	        
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