Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

Das Stufenreich der Künste. 
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ist der schönste, welcher in allen Stücken die Idee seiner Gattung am 
deutlichsten und anschaulichsten darstellt. In der Menschenwelt dagegen 
erscheint die Idee der Gattung bei der Fülle und Vielseitigkeit ihres Gehalts 
in jedem Individuum auf eine eigenthümliche Art, so daß jeder einzelne 
Mensch für sich die Erscheinung einer Idee ausmacht, um so einleuchtender 
und anschaulicher, ja gehaltvoller und bedeutender er selbst ist. Es 
giebt von jedem Individuum gleichsam ein eigenes Ideal, welches der 
Künstler zu erkennen und darzustellen hat, weshalb Winckelmann dieses 
Ideal als die Aufgabe des Porträts bezeichnet hat. 
Daher verlangt auch das menschliche Schönheitsideal mit der ihm 
zugehörigen Grazie eine mannichfaltige Jndividualisirung und viel 
förmige Darstellung, die weder den bloß gattungsmäßigen Typus ohne 
individuelle Belebung zu ihrem Gegenstand machen noch die charak 
teristischen Züge auf Kosten der gattungsmäßigen hervorheben und über 
treiben darf, denn sie gerätst auf dem ersten Wege zum bedeutungslosen, 
akademischen Schema und Kanon, auf dem zweiten zur Verunstaltung 
und Karikatur. Hieraus erklärt sich, warum die griechische Plastik 
das Ideal der menschlichen Schönheit und Grazie, dieses ihr Grund 
thema, in so verschiedenen Formen und Individuen ausgeführt hat, 
Götter, Heroen und Menschen darstellend, wie Zeus, Apollo, Bacchus, 
Hermes, Herakles, Antinous u. s. f. 
Aus eben demselben Grunde erklärt sich, warum sie ihre Gestalten 
nackt darstellt, entweder ganz unbekleidet oder-durch die Gewandung 
nicht etwa verhüllt oder verbirgt, sondern drapirt, d. h. den Körper 
mittelbar anschaulich macht, da sich derselbe in seiner Stellung und 
Bewegung zum Faltenwürfe verhält, wie die Ursache zur Wirkung. 
Diese Darstellung des Nackten hat also nichts mit den Begierden ge 
mein, sondern gehört zum Gegenstände und zum Stil der Plastik; sie 
ist bei den Alten auch nicht aus die Plastik beschränkt, sondern kenn 
zeichnet ihre Darstellungsart überhaupt: auch ihre Dichter und Schrift 
steller, ihre Redner und Geschichtsschreiber sprechen nackt, d. h. sie 
stellen ihre Gegenstände so einfach, unumwunden und klar wie möglich 
dar, ohne künstlich gesuchte Ausdrucksweise, ohne Putz und Flitter. 
Die Plastik schließt vermöge des Grundthemas ihrer Aufgabe 
alles Unschöne und Häßliche von sich aus und ist deshalb von weit 
engerem Umfange als die Malerei; aber sie ist, wie diese, eine bildende 
und darum stumme Kunst, die als solche das ganze Gebiet der lauten 
Geberdensprache, zn der auch das Schreien gehört, von sich ausschließt. 
Fischer. Gefch. d. Philos. IX. 2. Aufl. N. A. 24
	        
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