Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

Das Stufenreich der Künste. 
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es sich um die vollkommenste Erscheinung des Menschen. Vermöge 
dieses uns a priori gegebenen Ideals wird die menschliche Schönheit 
nicht aus der Erfahrung entlehnt, sondern ihr vorausgeschaut oder, 
wie Schopenhauer sagt, anticipirt. 
Aus den Principien seiner Lehre erklärt sich, woher in uns dieses 
Phantasiebild a priori stammt: es ist der Wille, dem in seiner Objec- 
tivation auf der Stufe des menschlichen Daseins und Lebens das Ziel 
seiner eigenen vollkommensten Erscheinung und Sichtbarmachung vor 
schwebt. Dieser objectivirende Wille sind wir selbst: daher die Idee der 
menschlichen Schönheit — denn es gilt ja den Ausdruck unseres eigenen 
Wesens — uns inwohnt, zunächst als dunkle Vorstellung, welche in der 
beständigen Anschauung menschlicher Körper, die wir betrachten und 
unwillkürlich vergleichen, sich allmählich aufhellt und bis zur klaren 
Erkenntniß verdeutlicht. So wird die Idee der Schönheit oder das 
menschliche Ideal zwar keineswegs der Erfahrung entlehnt, wohl aber 
durch dieselbe aus jener apollinischen Anlage und Idee, die eine Mit 
gift unseres Wesens ist, ausgemacht und entwickelt. Die entwickelte 
Schönheitsidee ist der Schönheitssinn. 
Vergegenwärtigen wir uns ein hochbegabtes, in seiner Cultur 
hochentwickeltes Volk, dessen Sitten und Erziehungszustände es mit 
sich bringen, daß seinem täglichen Anblick nackte, jugendlich männliche, 
wohlgebildete Körper sich in Menge darstellen, so werden hier die Höchst 
begabten nicht fehlen, die das Ideal des Menschenleibes in vollendeter 
Klarheit erfassen und darstellen. Plato hat die Liebe zur Schönheit, 
aus welcher die Liebe zur Wahrheit hervorgeht, den Eros genannt 
und das Erkenntnißbedürfniß, da feine Befriedigung allein in der ge 
meinsamen Erzeugung der wahren Begriffe besteht, mit der Zeugungs 
lust verglichen, aus welcher das Leben selbst hervorgeht. Auch die künst 
lerische Erzeugung der Schönheit ist Zeugungslust und stammt vom Eros. 
Der auswählende Geschlechtstrieb ist die Geschlechtsliebe, welche 
die vortrefflichen Exemplare der Gattung, das sind die schönen, den 
schlechten und häßlichen vorzieht. So entwickelt sich aus dem Zeugungs 
triebe, dieser heftigsten Begierde, dem Brennpunkte des Willens, der 
Sinn für die Schönheit, aus diesem aber, unabhängig von dem 
physischen Bedürfniß, der objective Schönheitssinn: die geniale 
Anschauung des menschlichen Ideals, der Trieb und Drang, dasselbe 
künstlerisch und schöpferisch darzustellen. Darin besteht die künstlerische, 
inspirirte Zeugungskraft und Zeugungslust, die dem Genie inwohnt
	        
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