Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

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Das Stnfenreich der Künste. 
Verhältniß beider in der reinsten Ausführung. Die Stütze in der 
allereinfachsten Form, die gar nichts anderes ausdrückt und aus 
drücken will als die Kraft des Stützens, ist die Säule, nicht die 
gewundene, welche zweckwidrig und geschmacklos ist, auch nicht der 
viereckige Pfeiler, der zwar leichter auszuführen ist, aber bei der Un 
gleichheit der Seiten und Diagonalen ungleiche Dicke hat, sondern die 
runde Säule: das Verhältniß zwischen Stütze und Last erscheint da 
her am reinsten in dem Verhältniß zwischen Säule und Gebälk. 
In der Säule soll nichts erscheinen als Stütze, im Gebälk nichts 
anderes als Last, in jener bloß die Kraft der starren Materie, in 
dieser bloß bieder schweren: daher müssen beide völlig gesondert und 
diese Sonderung in der reinsten und anschaulichsten Form ausgeführt 
werden. Dies aber geschieht in der Säulenreihe oder Säulen 
ordnung, die Schopenhauer deshalb — diese Vergleichung ist bei ihm 
sehr bedeutsam — „den Generalbaß der Architektur" nennt. 
Eine Wichte Mauer ist auch Stütze und Last, aber diese sind 
hier nicht von einander gesondert, denn jeder Stein ist beides zugleich. 
Auf einer von Thüren und Fenstern durchbrochenen Mauer pflegt man 
die Sonderung durch flache Pilaster mit Capitellen anzudeuten. In 
dem Verhältniß von Gewölbe und Pfeiler gehen Stütze und Last in 
einander über, jeder Stein im Gewölbe ist beides zugleich. Die Colon- 
nade gleicht einer in regelmäßigen Intervallen aufsteigenden Tonleiter, 
die Mauer einem ununterbrochen aufsteigenden Tone, d. h. einer Art 
von Geheul. 
Um die Kraft des Stützens in ihrer vollen Stärke und Freiheit 
darzustellen, darf die Säule nicht unter der Last des Gebälkes zu sehr 
beschwert und gedrückt erscheinen, sondern sie muß dieselbe leicht und 
bequem tragen, was durch die zwanzigfache Festigkeit des Baues be 
wirkt wird und durch die Verjüngung des Säulenschaftes von der 
Entasis (l'vcaoi?), dem ersten Drittel der Höhe, an zum Ausdrucke 
kommt. Um ihre Tragkraft erscheinen zu lassen, darf die Säule nicht 
wie ein Zapfen im Gebälk stecken, sondern muß ihre tragende Fläche 
vergrößern und als ein besonderes Glied hervorheben: dies geschieht 
durch das „Capitell", den Abakus der dorischen Säule. Das 
Kapitell hat nur den Zweck, in der stützenden Kraft der Säule die 
Function des Tragens deutlich zu veranschaulichen. 
Aus dem Verhältniß zwischen Stütze und Last, Säule und 
Gebälk, diesem Grundthema der schönen Architektur, ergeben sich die
	        
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