Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

Das Stufenreich der Künste. 361 
Vierzehntes Capitel. 
Das Stufenreich der Künste. 
I. Die bildende Kunst. 
1. Die Architektur. 
Wenn man im Hinblick auf die Sculptur, Malerei und Poesie 
meinen könnte, daß die Aufgabe dieser Künste in der Nachbildung 
der wirklichen Dinge und Vorgänge bestehe, so ist es doch ganz un 
möglich, diese Ansicht auf die beiden anderen Künste auszudehnen und 
die natürlichen Vorbilder nachzuweisen, welche die Architektur und die 
Musik abzubilden haben. Hier ist eine von der bisherigen Aesthetik 
ungelöste und nach der geläufigen Theorie, daß die Natur das Vor 
bild der Kunst sei, unlösbare Aufgabe. Man darf daher im voraus 
sagen, daß in der Begründung der Architektur und Musik die Lehre 
Schopenhauers völlig originell ist und ohne Vorgänger. * 
Wir unterscheiden die schöne Architektur von der nützlichen. 
Diese hat es mit den menschlichen Bedürfnissen zu thun, sie dient dem 
Willen zum Leben, zum menschlichen Dasein, welches der Behausung 
bedarf wie der Bekleidung. Es ist daher hier nicht die Rede vom 
Bau der Zelte, Hütten, Häuser, Paläste u. s. f. Das Thema der 
schönen Architektur ist die Willenserscheinung auf ihrer niedrigsten 
Stufe, die unterste Weltidee, d. i. die Offenbarung der allgemeinsten 
Grundkräfte in der schweren, starren, flüssigen Materie und ihren 
Verhältnissen zum Licht. Die Grundkräfte der Materie sind gleich 
sam — diese Vergleichung ist bei Schopenhauer sehr vielsagend — 
„die Grundbaßtöne der Natur". Die beiden der Materie inwohnenden, 
einander entgegengesetzten Grundkräfte sind die.Gravitation oder Schwere, 
vermöge deren der Körper fällt, drückt, lastet, und die zurückstoßende 
Kraft, vermöge deren der starre Körper der Last widerstrebt und, 
wenn er stark genug ist, dieselbe trägt und stützt. Der Antagonismus 
dieser beiden Grundkräfte, der Kampf zwischen der schweren und starren 
Materie ist „der einzige Stoff der schönen Architektur". 
Demnach ist das Grundthema oder die Idee, deren anschaulichste 
Darstellung die eigentliche Aufgabe der Architektur als ästhetischer 
Kunst bildet, das Verhältniß zwischen Stütze und Last: das passende 
Ebendas. I. § 42-43. II. Cap. XXXV.
	        
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