Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

360 Das Reich des Schönen und der Kunst. 
Wenn die erlebten Schicksale so entsetzlicher Art sind, daß die 
Erinnerung daran ein zu qualvoller Zustand des Bewußtseins ist, um 
ertragen zu werden, dann greift der Wille zum letzten und äußersten 
Rettungsmittel: er zerreißt das Gedächtniß, er suspendirt und verfälscht 
die Vernunft, indem er die entstandene heillose Lücke durch lauter 
Wahnideen ausfüllt, sei es durch sogenannte fixe Ideen oder durch 
augenblickliche tolle Einfälle: jenes thut der melancholische Wahnsinn 
oder die Schwermuth, dieses der tolle Wahnsinn oder die Narrheit. 
Es sind zwei Gewaltacte, die der Wille vollzieht, um das Gedächtniß 
zu verfälschen: der erste besteht darin, daß er sich gewaltsam etwas 
aus dem Sinn schlägt, der zweite darin, daß er sich gewaltsam etwas 
in den Kopf setzt. Schopenhauer hat als Beispiel dieser seiner Theorie 
des Wahnsinns den König Lear und die Ophelia cmgefüljrt 1 ; er hätte 
die Stelle anführen sollen, da sie vorzüglich zu dieser seiner Lehre 
paßt, wo Lear, von beiden Töchtern verstoßen, außer sich geräth und 
in die Worte ausbricht: 
Ihr denkt, ich werde weinen? 
Nein, weinen will ich nicht, 
Wohl hab' ich Fug zu weinen, doch dies Herz 
Soll eh' in hunderttausend Scherben splittern, 
Bevor ich weine. — O Narr, ich werde rasend! 
Nach den in diesem Capitel enthaltenen Ausführungen wird dem 
Leser einleuchten, warum Schopenhauer sein drittes Buch überschrieben 
hat: „Der Welt als Vorstellung zweite Betrachtung: die Vorstellung 
unabhängig vom Satze des Grundes: die Platonische Idee: das Object 
der Künste. 
Dreizehntes Capitel. 
Das Reich des Schönen und der Kunst. 
I. Das ästhetische Wohlgefallen und dessen Begründung. 
In der Begründung ihrer Aesthetik hat die Lehre Schopenhauers 
einigen Schwierigkeiten zu begegnen, die aus dem Wege zu räumen 
sind. Was die willensfreie Anschauung der Dinge, „das reine Subject 
des Erkennens" betrifft, diese Grundlage seiner ganzen Aesthetik, so 
^ Die Welt als Wille u.s.f. I. §76. S. 224-229. II. Cap. XXXII. S.458ff.
	        
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