Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

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Die Anschauung der Ideen. 
in unserer Kindheit die ersten Eindrücke der Welt, so wie unser 
größter Dichter die seinigen geschildert hat: 
Ich freute mich bei einem jeden Schritte 
Der neuen Blume, die voll Tropfen hing; 
Der junge Tag erhob sich mit Entzücken, 
Und alles war erquickt, mich zu erquicken. 
Die vorherrschende, vonr Willen ungetrübte Entwicklung des Jn- 
tellects in der Kindheit ist dem genialen Jntellect verwandt und ver 
gleichbar. Jedes normale Kind ist gewissermaßen ein Genie, und jedes 
Genie ist und bleibt gewissermaßen ein Kind, wie denn bei Mozart 
und Goethe unter ihren Grundzügen immer die Kindlichkeit ihres Wesens 
hervorgehoben wird. Goethe sei, wie Herder und Wieland überein 
stimmend bezeugen, stets ein „großes Kind" geblieben. Und wie der 
hestigste und leidenschaftlichste aller Triebe in der Gestalt der Geschlechts 
liebe aus dem Paradiese der Kindheit hervorgeht, dasselbe noch über 
strahlt, dann versengt und zerstört, die Welt verfinstert, Leben und 
Dasein zu Grunde richtet: das hat kein Dichter der Welt so erlebt 
und so geschildert, wie Goethe in den Leiden des jungen Werthers und 
in Gretchen. Vorher lag die Welt in paradiesischem Licht; nach dem 
Ausbruch der verzehrenden Gluth heißt es: „Die ganze Welt ist mir 
vergällt!" 1 
Die geniale Erkenntniß wurzelt in der Anschauung und bedarf, 
um dieselbe so energisch festzuhalten, so besonnen zu wiederholen, aus 
zubilden und zu läutern, einer außerordentlichen Stärke der Phantasie, 
die nichts mit den Gaukeleien der Phantasten und den Seifenblasen 
gemein hat, womit die gewöhnlichen Nomanschreiber ihre Leser ergötzen. 
Da nun die gegenwartigen Eindrücke immer die anschaulichsten sind, 
so werden diese ans den genialen Jntellect mächtig einwirken, obwohl 
das Genie in seiner Zeit und Welt sich fremd fühlt. Aus seiner 
hohen künstlerischen und dichterischen Begabung folgt jener Mangel 
an Nüchternheit und praktischer Klugheit, dessen wir oben gedacht haben; 
aus beiden folgt der schmerzlich empfundene Contrast zwischen Genie 
und Welt, diese beständige Quelle peinlicher und quälender Affecte. 
Nehmen wir dazu, daß diese durch die Phantasiestärke außerordentlich 
gesteigert und erhöht werden, so sehen wir die Leiden und das Mär- 
* Vgl. Aphorismen zur Lebensweisheit. Cap. VI. Vom Unterschiede der 
Lebensalter. Parerga I. S. 508slgd. Vgl. oben Cap. VII. S. 265.
	        
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