Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

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Die Anschauung der Ideen. 
menschlichen Weisheit anstaunte, mit den beiden abendländischen Philo- 
sophieen, die ihm unter allen Systemen als die tiefsinnigsten erschienen. 
Er hat das eigene System mit dem hundertthorigen Theben ver 
glichen, was zu viel gesagt war; wohl aber läßt es sich mit einer 
Stadt vergleichen, die vier Thore hat: das erste heißt Kant, das 
zweite Plato, das dritte die Weisheit des Veda, das vierte Buddha. 
Wer hätte glauben sollen, daß so verschiedene Richtungen in ein und 
dasselbe Centrum führten! Als Schopenhauer sein eben vollendetes 
Hauptwerk dem Buchhändler A. Brvckhaus anbot, nannte er es „eine 
im höchsten Grade zusammenhängende Gedankenkette, die bisher noch 
nie in irgend eines Menschen Kopf gekommen sei"? 
Daß diese Kette in seinem Kopf auf eine einzige und überraschende 
Art zusammengedacht war, ist richtig; wir verstehen auch, daß sie ihm 
selbst „als im höchsten Grade zusammenhängend" erschien. Ob aber 
dem System dieser Charakter in Wahrheit zukommt, werden wir erst 
am Schlüsse unseres Werks zu untersuchen haben. Wir nehmen jetzt 
den Zusammenhang, wie er sich giebt. 
II. Die geniale Anschauung und deren Object. 
1. Die Urformen oder Ideen. 
Der Jntellect entsteht als Werkzeug des Willens und hat von 
Natur die Bestimmung, diesem zu dienen. In dieser Dienstbarkeit 
beharrt der thierische Jntellect, während der menschliche die Fähigkeit 
und Kraft gewinnt, die Fesseln seiner Leibeigenschaft zu lösen und 
sich von dem Joche des Willens zeitweise ganz zu befreien. In dem 
sichtbaren Ausdruck des freigewordenen Jntellects unterscheidet sich die 
menschliche Gestalt von der thierischen: bei den niederen Thieren ist 
der Kopf mit dem Rumpfe verwachsen, bei den höheren bleibt er zur 
Erde gerichtet, wo die Objecte ihrer Bedürfnisse wahrzunehmen sind, 
bei dem Menschen erhebt er sich über den Rumpf und erscheint auf 
ihm wie frei schwebend, er äquilibrirt auf der Halswirbelsäule, umher 
schauend, in die Ferne blickend, emporgerichtet, wie es die Kunst im 
Apollo von Belvedere zur ausdrucksvollsten Darstellung gebracht hat. 
Erst der Kopf des Menschen ist das Haupt des Leibes und verkündet, 
daß der menschliche Jntellect eine apollinische Anlage in sich trügt. 
* S. oben Buch I. Cap. III. S. 53flgd.
	        
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