Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

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Das Organ und die Arten des Traums. 
3. Die Deuteroskopie. 
Jede Vision ist ein zweites Gesicht magischer Art und heißt als 
solches Deuteroskopie. Ist der Gegenstand einer solchen Vision 
die eigene Person selbst, so wird das Gesicht gewöhnlich auf den bevor 
stehenden Tod gedeutet. Es kann aber auch eine trostreiche Vision 
sein, wie sich die Goethes deuten läßt, als er im Trennungsschmerz 
nach seinem Abschiede von Sesenheim sich selbst auf dem Wege dahin 
erblickte. 
Wenn die Person nicht sich selbst, wohl aber an Orten, wo sie 
nicht ist, andern erscheint und zu erscheinen pflegt, so besteht darin 
das magische Phänomen des Doppelgängers, welches Schopenhauer 
zwar berührt, aber gar nicht zu deuten, geschweige zu erklären versucht 
hat; auch ist die Erscheinung eine der unerklärlichsten in dem Gebiet 
der Visionen, da sie ohne alle Beziehung auf den Willen und das 
Wissen sowohl der Person, welche erscheint, als auch der andren, denen 
dieselbe erscheint, stattfindet. 
Die Person sieht zwar nicht sich selbst, aber sie hat Erscheinungen, 
die sie und ihre nächste Zukunft betreffen, die ihr Unheil oder Heil, 
Gefahren und Rettung, auch unabwendbares Unglück bedeuten und 
verkünden. Eine Erscheinung der letzten Art war die des Brutus in 
der Nacht vor der Schlacht von Philippi. Solche Visionen haben in 
der Mythologie der Alten wohl die Vorstellung hervorgerufen, daß 
jede Person ihren guten und bösen Genius habe, ihren Schutzgeist 
und ihren Verderben bringenden Dämon. 
Der Gegenstand des zweiten Gesichts kann eine gegenwärtige 
Begebenheit, ein gleichzeitiges Ereigniß sein, welches in weiter Ferne 
vor sich geht, wie von Swedenborg glaubwürdig berichtet wird, daß er 
in Gothenburg den Brand Stockholms gesehen habe. Es ist befremd 
lich, daß Schopenhauer auf diese Art der Deuteroskopie nicht näher 
eingeht und überhaupt die Wunderthaten Swedenborgs, die ihm doch 
wohl bekannt waren, ganz unberücksichtigt läßt. 
4. Die Gespenster. 
Wenn es vergangene Begebenheiten und Personen sind, die sich 
dem Traumorgan im wachen Zustande vergegenwärtigen, so entsteht 
„die rückwärts gekehrte Deuteroskopie", «u retrospective second 
sight», wie Schopenhauer sagt. Solche Visionen sind an die Orte 
gebunden, wo ungeheure Begebenheiten geschehen, Unthaten verübt.
	        
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