Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

Der Primat des Willens. 
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Und an einer andern Stelle: „Die mittelmäßigen Köpfe wittern und 
meiden instinctmäßig die geistvollen". Noch schärfer ist Lichtenbergs 
Ausspruch: „Gewissen Menschen ist ein Mann von Kopf ein fataleres 
Geschöpf, als der declarirteste Schurke". 
Wenn wir die Beschaffenheiten des Jntellects mit denen des 
Willens vergleichen, die Vorzüge und Fehler des einen mit den Vor 
zügen und Fehlern des andern, so erhellt sogleich, welchen von beiden 
der Vorrang, der primäre Charakter, der Grundwerth gebührt. Schon 
die Sprache entscheidet darüber. Man sagt: „Er hat einen guten 
Kopf, aber ist ein schlechter Mensch". So identificirt der gewöhnliche 
Sprachgebrauch Willen und Mensch. Im Willen steckt der wahre und 
eigentliche Mensch, daher ein guter Wille mit einer geringen Intelligenz 
besser ist, als der umgekehrte Charakter. Wir entschuldigen die Thorheit, 
nicht die Bosheit; nicht der Unverstand wird angeklagt, sondern der 
böse Wille. Wer Handlungen zu entschuldigen hat, beruft sich auf 
seinen guten Willen, und daß er es nicht besser gewußt habe. Wie ganz 
anders beurtheilt man einen ungerechten Richterspruch, wenn derselbe 
die Folge des Irrthums, als wenn er die Folge der Bestechung war! 
Im ersten Fall ist der Spruch ungerecht, im zweiten der Mann. 
Der Wille bleibt, was er ist, unveränderlich und unversehrt, der 
Jntellect ist veränderlich und vergänglich; die moralischen Eigenschaften 
des Greisen sind dieselben, als die des Kindes, weshalb Gall un 
bekannte Personen gern auf ihre Kindheit und Jugend zu sprechen 
brachte, um ihren Charakter kennen zu lernen; daß er aber die mora 
lischen Eigenschaften in dem Erkenntnißorgan und dessen Behausung, 
der Bildung und Wölbung des Schädels, auffinden wollte, war der 
Grundfehler seiner Lehre. Die Art und Weise, wie die moralischen 
Grundzüge zur Darstellung kommen, ändert sich mit den Jahren und 
den Erfahrungen, aber der Charakter bleibt constant. In der Jugend 
macht man sich einen falschen Bart, im Alter färbt man den ergrauten. 
Ebenso constant sind die Vorzüge des Willens, der Edelmuth und die 
Herzensgüte, die noch aus dem Greise, wenn schon die übrigen Lebens 
kräfte im Absterben sind, wie die Sonne aus Winterwolken hervor 
leuchten. Hier findet sich eine der schönsten und bemerkenswerthesten 
Stellen, die Schopenhauer geschrieben hat: „Wie Fackeln und Feuer 
werk vor der Sonne blaß und unscheinbar werden, so wird Geist, ja 
Genie und ebenfalls die Schönheit überstrahlt und verdunkelt von der 
Güte des Herzens. Wo diese in hohem Grade hervortritt, kann sie 
Fischer, Gesch. b. Philos. IX. 2. Stuft. N. A. 21
	        
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