Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

Der Primat des Willens. 
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Stand haben, denn sie verkünden neue Wahrheiten, während die gewohnten 
Interessen in ihren bequemen Geleisen fortdauern. Erst wenn die 
Weltznstände, nämlich der Komplex der Weltinteressen, sich von Grund 
aus umgestalten, erfolgt der siegreiche Durchbruch der Wahrheit. 
Uebrigeus läßt sich auch im Einzelnen und Kleinen beobachten, 
wie der Vortheil ohne Vorurtheil den Jntellect unwillkürlich in die 
Irre führt und verfälscht. Die Rechnungen, die wir zahlen sollen, 
erscheinen uns gewöhnlich zu groß, die Berechnung der Einnahme zu 
klein; es begegnet ehrlichen Leuten, daß sie sich zu ihren Gunsten ver 
rechnen, indem sie unwillkürlich bestrebt sind, ihre Schuld kleiner, ihre 
Forderung größer vorzustellen. Ich spreche nicht von den zahllosen 
Fällen, in denen aus bewußter Absicht die Rechnung verfälscht wird. 
Nun aber zeigt sich der Primat des Willens und seine Macht 
über den Jntellect nicht bloß durch die hemmenden und trübenden 
Einflüsse, die er auf diesen ausübt, sondern auch durch die Antriebe, 
wodurch er die intellectuelle Thätigkeit erhöht und steigert. Die 
Interessen der Selbsterhaltung, die stärksten, die es giebt, der Drang 
der Begierden und die Noth machen den Jntellect erfinderisch. Man 
nennt die Noth die Mutter der Künste. Sie schärst den thierischen 
und menschlichen Verstand, selbst den geringen, bis zum Grade un 
gewöhnlicher Klugheit. Der Hase, der sich von dem vorübergehenden 
Jäger ungesehen weiß, läuft nicht davon, Jnsecten stellen sich todt, der 
Fuchs in beständigem Kampf mit Noth und Gefahr erreicht im Alter 
den hohen Grad seiner sprüchwörtlichen List und Schlauheit. 
Der Wille stärkt das Gedächtniß. Was für den Willen, seine 
Begierden und Leidenschaften Werth hat, das prägt sich dem Gedächtniß 
unvertilgbar ein und haftet in ihm gleichsam von selbst: das Pferd 
behält den Fütterungsstall, der Geizige vergißt keinen Verlust, der 
Stolze keine Ehrenkränkung u. s. f. Das Gedächtniß des Herzens ist weit 
intimer, als das des Kopfes. Auch der kritische Beobachtungsgeist wird 
vom Willen außerordentlich geschärft und verfeinert. Uin seine Hypothese 
zu beweisen, bekommt man Luchsaugen. 
Aus der alten Annahme von dem Primat des Jntellects ergeben 
sich die falschesten Folgerungen, welche auch von der Erfahrung sogleich 
als solche dargethan werden. Wenn der Verstand die Herrschaft führte, 
dann wäre es unmöglich, blindlings zu wollen, über die geringsten 
Anlässe in den größten Zorn zu gerathen, den klarsten Vernunftgründen 
unzugänglich zu bleiben und den geilen Willen entgegenzusetzen, wie
	        
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