Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

318 
Wille und Kausalität 
Schon in einem früheren Abschnitt, wo von den Unvollkommen 
heiten des Intellekts die Rede war, haben wir auf die störenden Ein 
wirkungen des Willens hingewiesen? Unser Verstand hat, wie Baeon 
sagt, kein trockenes, reines Licht, weil er durch den Einfluß des Willens 
getrübt wird. Furcht und Hoffnung vergrößern ihre Gegenstände und 
verkleinern deren Gegentheile, so daß wir nicht mehr im Stande sind, 
die Lage der Dinge unbefangen zu beurtheilen. Die Liebe vergrößert 
sich den Werth ihrer Objecte, der Haß den Unwerth, so daß wir nicht 
mehr im Stande sind, dieselben richtig zu schützen. Wo es sich aber um 
die Werthe der Dinge handelt, da ist unser Vortheil und Nachtheil, 
unser Wohl und Wehe, unser Dasein und Wohlsein, mit einem Worte 
unsere Selbstliebe, d. h. wir selbst im Spiel und unmittelbar betheiligt 
oder interessirt. Unsere Interessen sind die intimsten Willensau 
gelegenheiten und fallen mit den Willenszuständen und deren Richtungen 
zusammen. 
Da das Wollen in seiner beständigen Rührigkeit dem Erkennen 
voreilt, so sind auch die Vortheile schneller und früher als die Urtheile 
und erscheinen, wie sie der Name treffend bezeichnet, als Vorurtheile. 
Diese sind nicht, wie man sie häufig und oberflächlich ansieht, intelleetuelle 
Irrthümer, die auf dem Wege der Erkenntniß entstehen und durch die 
fortschreitende Einsicht aus dem Wege geräumt werden: sie sind nicht 
theoretischer, sondern praktischer Art und beruhen in ihren gewichtigsten 
und einflußreichsten, uns angeborenen und anerzogenen Formen aus 
der Gemeinschaft der Liebe und des Hasses, auf den Familien- und Standes- 
iuteressen, auf der nationalen und kirchlichen Zusammengehörigkeit. 
Von diesen Interessen sind wir beherrscht, ehe wir fähig sind, ihre 
Gründe zu erkennen und zu prüfen. Hier gelten statt aller Erkenntniß 
gründe die blinden Interessen, auf deren Macht sich die Vorurtheile 
stützen. Daher auch Erkenntnißgründe, wissenschaftliche Prüfung und 
Belehrung, sie seien noch so einleuchtend und überzeugend, im Großen 
und Ganzen wider die Macht, z. B. der Glaubensinteressen, nicht das 
Mindeste ausrichten; die Gläubigen verurtheilen alle solche Prüfungen un 
besehen und sagen, daß sie nichts davon wissen wollen und sich gar nicht 
dafür interessiren. Die Wahrheitsliebe ist stets die Sache weniger, „der 
Wenigen, die was davon erkannt". Die Masse will unterhalten, nicht belehrt 
sein: daher auch die Lehrer des Menschengeschlechts einen so schwierigen 
i S. oben Buch II. Cap. VI. S. 233 flgd.
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.