Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

Der Primat des Willens. 
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Willensdrang, er will bloß, er weiß nicht, was er will. Es giebt auch 
große Säuglinge von kräftigem Willensdrange, die nicht wissen, was 
sie wollen; die sich fortwährend gehemmt fühlen, ohne den Grund der 
Hemmung zu erkennen und auf vernünftige Weise aus dem Wege zu 
räumen. Diese großen Säuglinge toben und schreien nicht, wie der 
kleine, aber sie ärgern sich alle Augenblicke, und wenn kein anderer 
Grund vorhanden ist, so ärgert sie, wie das Sprüchwort sagt, die 
Fliege an der Wand. Alle möglichen Umstände, die ihnen begegnen, 
verwandeln sich in solche Fliegen, die der Jntellect auf der Stelle 
verscheuchen würde, wenn er im Stande wäre, den Willen zu beherrschen. 
Hätte die Vernunft den Primat, so würde sich die Welt weit weniger 
ärgern. Daß der Wille sich so viel ärgert und ärgern läßt, beweist 
das Gegentheil. Das Wort „Mensch, ärgere dich nicht!" ist eine sehr 
vernünftige, aber erfolglose Mahnung. 
Die Gegengewichte wider den voreiligen Willensdrang und die 
Gewalt der Asfecte liegen einzig und allein in der Erkenntniß und 
den Vernunftgründen. Wenn diese Gewichte die Asfecte niederhalten 
und siegen, dann herrscht der Kopf oder, wie man zu sagen pflegt, 
man behält den Kopf oben; mitten unter den Umständen und Begeben 
heiten, die auf uns eindringen und die Affecte erregen, läßt sich der 
Jntellect in der Untersuchung und Prüfung der Gründe nicht beirren 
und stören: darin besteht die Geistesgegenwart. Sie wäre nicht 
möglich, wenn sich der Wille von den Aflecten fortreißen und erhitzen 
ließe. Daß er es nicht thut, darin besteht die Kaltblütigkeit des 
Willens, ohne welche die Geistesgegenwart und Herrschaft des Jntellects 
nicht stattfinden könnte. Es ist also die Selbstbeherrschung des Willens 
oder der Wille zur Selbstbeherrschung, der jene Gegengewichte in Kraft 
und Wirksamkeit setzt. Das richtige Verhältniß zwischen Wille und 
Jntellect besteht darin, daß der Wille herrscht und der Jntellect regiert: 
1s roi regne, il ne gouverne pas. 
Der Wille gleicht dem Reiter und der Jntellect dem Zügel, welchen 
der Reiter seinem Roß anlegt, um es zu lenken. Das Pferd ist wild. 
Wenn er die Zügel losläßt, so geht es durch, venire ä terre; dann 
toben die Affecte, und der Wille gleicht einem Uhrwerk, welches abschnurrt, 
wenn die Schrauben los sind. Der Jntellect ist gleichsam die Waffe und 
Rüstung, womit sich der Wille gegen den Ansturm der Affecte bewehrt. 
Wenn diese herrschen und stürmen, dann ist der Wille unbewehrt, er 
hat seine Rüstung abgelegt, und man sagt treffend: er sei entrüstet.
	        
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