Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

816 
Wille und Causalität. 
Epoche macht, den Jntellect um eine Octave erhöht, die Stimme um 
eine vertieft, zwanzig Jahre bis zur Geistesblüthe, dreißig bis zur 
Geistesreife; mit der Senescenz unterliegt der Jntellect wie sein Organ 
dem Altern, Verwelken und Sterben. In früher Jugend unvollkommen, 
im späten Alter abgenutzt, durch seine Thätigkeit angestrengt, durch 
die Anstrengung ermüdet und periodisch zu völligem Pausiren ge 
nöthigt, durch fortgesetzte Ueberanstrengung am Ende zerrüttet und 
gänzlich geschwächt, wie es bei Swift und Kant der Fall war, trügt 
dieses Werkzeug des Willens im vollsten Gegensatze zu dem Wesen des 
letzteren durchgängig die Züge und Spuren seiner physischen Herkunft. 
Nichts bezeugt deutlicher die secundäre Beschaffenheit der Erkennt 
niß als die Nothwendigkeit ihrer periodischen Jntermittenz. Nach 
den Anstrengungen der bewußten Tagesarbeit kommt die Pause des 
tiefen Schlafs, worin alle Verstandes-und Vernunftthätigkeit aufhört. 
Das Gehirn ist gleichsam die Vedette, oben auf der Warte des Kopfes 
ausgestellt, um durch die Fenster der Sinne umherzuspähen und wahr 
zunehmen, was in der Außenwelt geschieht; nach verrichteter Wache 
wird die Vedette eingezogen und muß schlafen. Nun waltet der Wille 
allein, unbemerkt und still, frei von der Last der Erkenntniß, organi- 
sirend, die vitalen Functionen ausübend, Störungen beseitigend und 
heilend. Darin besteht die Heilkraft des Schlafs. 
Der Wille ist unermüdlich wirksam und geschäftig, während der 
Jntellect langsam fortschreitet, schwierige Untersuchungen anstrengt, 
periodisch pausirt und Zeit braucht, um seine Motive zu ordnen. Daher 
ist der Wille, bei dem alles leicht von statten geht, weit schneller als der 
Jntellect, dem er in Wort und That vorspringt und voreilt. Das 
Sprüchwort sagt: „Vorgethan und nachbedacht hat manchen in groß 
Leid gebracht". Dieser „Mancher" ist der Wille. Voreiligkeit und vor 
schnelles Wesen gehören zu seiner Natur und zeigen, wie wenig er vom 
Jntellect abhängt, vielmehr die Sache sich umgekehrt verhält, da sonst 
die Voreiligkeit unmöglich wäre. Voreilig handeln heißt handeln 
wollen, bevor man die Beweggründe durchdacht und erwogen hat, 
d. h. unbesonnen, unüberlegt handeln; voreilig urtheilen heißt urtheilen 
wollen, ehe man die Erkenntnißgründe geprüft: es ist also der Wille, 
der voreilig, unüberlegt, unbesonnen urtheilt und handelt. 
Noch bevor die intellectuelle Thätigkeit überhaupt begonnen hat, 
zeigt sich schon der Wille in voller Kraft und Wirksamkeit. Man sehe 
nur den Säugling, wie er zwecklos tobt und schreit, er strotzt von
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.