Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

Der Primat des Willens. 
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vorphantasiren zu lassen, sich einzubilden, daß er solche Motive haben 
könne und wirklich habe, bis der Moment des Handelns eintritt und 
allen Gaukeleien ein Ende macht. Dies, ist die Art der Selbst 
täuschung. Man überredet sich sehr gern und leicht, daß die 
egoistischen Motive, die man in Wahrheit hat, die uneigennützigsten Ab 
sichten sind, man hält seine Furcht und Feigheit für moralischen 
Muth u. s. f. Dies ist die Art der Selbstbelügung. Und ist man 
über die schlimme Beschaffenheit der eigenen Motive völlig im Klaren, 
so thut man alles, um den Schein des Gegentheils hervorzurufen und 
in dem Jntellecte der anderen als ein Mensch von edelsten Gesinnungen 
zu erscheinen. Dies ist die Art der Heuchelei und des Betrugs. In 
allen Fällen ist es der Charakter, d. h. die Willensart, welche die wahren 
Motive entscheidet, es ist die Selbst- und Eigenliebe, d. h. die Grund 
richtung des Willens, welche die eingebildeten Motive macht und alles 
in ihrem Sinn und stets zum Besten zu wenden versteht, weshalb 
Larochefoucauld sehr richtig sagt: «L’amour-propre est plus habile, 
que le plus habile homme du monde». 
Der Wille ist der Herr und der Jntellect sein Werkzeug: er ist 
gleichsam die Laterne, die ihm den Weg beleuchtet, aber selbst weder 
den Weg noch die Schritte macht. Der Wille von sich aus ist blind 
und bedarf eines Dieners, der sieht und ihn leitet, doch für sich selbst 
keinen Schritt zu gehen vermag. Darum läßt sich das Verhältniß des 
Willens zum Jntellect nicht treffender ausdrücken als in dem Gleichniß 
vom Blinden, der den Lahmen auf seinen Schultern trägt. 
2. Der unermüdliche und voreilige Wille. Hemmungen und Antriebe. 
Daß der Jntellect das Werkzeug des Willens und von durchaus 
secundärer Beschaffenheit ist, erhellt auf das Deutlichste, wenn wir die 
Thätigkeiten beider vergleichen. Unabhängig von aller Zeit, ist der Wille 
unentstanden, unvergänglich, nicht alternd; unabhängig von aller Causa- 
lität, ist er grundlos und bedarf zu seiner Thätigkeit keines Anstoßes 
und keiner Anstrengung. Als die Quelle alles Daseins und Lebens, 
aller leiblichen Organisation, aller willkürlichen und unwillkürlichen 
Bewegung ist der Wille fortwährend thätig und ermüdet nie. 
Dagegen der Jntellect entsteht mit dem Erkenntnißorgan, er ent 
wickelt. sich mit diesem allmählich und langsam, das menschliche Leben 
braucht sieben Jahre, bis das Gehirn seine normale Größe erreicht hat, 
vierzehn bis zur Geschlechtsreife, die auch im intellectuellen Leben eine
	        
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