Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

Die Lehre von der menschlichen Glückseligkeit. 265 
Ebendas. S. 508-511. 
gangenheit zwar nach der Zahl der erlebten Jahre sich weit ausdehnt, 
aber in der Erinnerung, die vieles ausgelöscht und nur das Wichtigste 
bewahrt hat, sich außerordentlich verkürzt. Die jedesmalige Gegenwart 
färbt sich verschieden nach der Art sowohl der Temperamente als auch 
der Charaktere, denn der Charakter eines jeden Menschen ist einem 
Lebensalter vorzugsweise angemessen; es giebt kindliche, jugendliche, 
männliche, greisenhafte Charaktere, die es von Geburt sind und diese 
ihre Art durch das ganze Leben behalten. 
Das Leben mit einem Schauspiele verglichen: so erscheint in 
der Jugend die Welt wie eine Theaterdecoration, von weitem gesehen; 
im Alter dagegen kennt man die Dinge in der Nähe, die Decorationen, 
wie sie hinter den Kulissen aussehen, und die Teppiche von der Kehr 
seite. Die Lebensanschauung mit einem Fernglase verglichen: so 
sieht man in der Jugend die Welt durch das Objectivglas, im Alter 
dagegen durch das Ocularglas. 
Die Kindheit, ihre normale Entwicklung vorausgesetzt, ist von 
allen Lebensaltern das glücklichste. Ein normales Kind wird von den 
Begierden noch nicht gequält und von dem Anblicke der Dinge, die sich 
wie Bilder vor ihm aufthun und entfalten, immer von neuem entzückt. 
Die Erzengel im Prologe des Goetheschen Faust preisen die Herrlichkeit der 
ewig jungen, wie im frischen Morgenthau leuchtenden und strahlenden 
Schöpfung: „Die unbegreiflich hohen Werke sind herrlich wie am ersten Tag!" 
So herrlich steht die Welt vor jedem Menschen in seiner frühen Jugend. 
Die Dinge erscheinen in der Seele des Kindes, wie in der des Künstlers 
als Gattungen, als Typen; jedes, das zum erstenmal mit Bewußt 
sein angeschaut wird, erscheint als seine Gattung, als sein Typus, und 
diese Züge wirken mit unauslöschlicher Kraft fort durch das ganze 
folgende Leben. Wie die Welt vor dem schauenden Blicke des Kindes 
gleich einem Paradiese sich aufthut, so ist die Kindheit selbst das 
Paradies des menschlichen Daseins: sie ist in Wahrheit Pas Arkadien, 
worin wir alle geboren sind.* 
In dem Jünglingsalter herrschen die Gefühle der entwickelten 
Pubertät, die dadurch inspirirte Einbildungskraft, eine durch subjective 
Phantasieen gefärbte, wohl auch getrübte Lebens- und Weltansicht. Der 
Jüngling sieht die Welt auch noch als Bild, aber er sieht in diesem 
Bilde auch sich; ihn beschäftigt und erfüllt, ihn vergnügt und quält
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.