Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

262 Die Lehre von der menschlichen Glückseligkeit, 
* Ebendas. S. 476. — 2 Ebendas. S. 486. - - Ebendas. S. 485—486. 
aber ist ein Genie ohne Gleichen. Wenn ein solcher Mann mit andern 
redet, so macht er sich in buchstäblichem Sinne des Wortes gemein 
und entdeckt nun erst, was die Redensart „sich gemein machen" be 
deutet? Ich hatte immer gedacht, wenn jemand sich gemein mache, 
so liege die Schuld nicht an den andern, sondern an ihm. Wenn aber 
jemand ein Genie ist, so verhält es sich anders. 
Der wechselseitige Verkehr der Menschen ist auf wechselseitige 
Täuschungen angelegt und berechnet. Im Umgänge machen es die 
Leute wie der Mond und die Buckeligen, nämlich stets nur eine 
Seite zu zeigen. (Das Gleichniß klingt witziger, als es ist. Da der 
Mond nicht bucklicht ist, d. h. keine uns bekannte häßliche Rückseite 
hat, die er besser nicht zeigt, so ist gar kein Vergleichungspunkt vor 
handen.) Freilich pflegen die Leute die schlechten Eigenschaften, welche 
sie haben, so viel wie möglich zu verhehlen und gute Eigenschaften, 
welche sie nicht haben, so viel wie möglich zu erheucheln: in der ersten 
Absicht brauchen sie die verzeihlichen Künste der Dissimulation, in der 
zweiten die verwerflichen der Simulation? Da man aber durch die 
geflissentliche Verhehlung seiner schlechten Eigenschaften sich auch besser 
stellt, als man ist, so ist die Dissimulation eine Art Simulation und 
sollte für ebenso unwahr und darum für ebenso verwerflich gelten 
als diese. 
Unter allen Arten menschlicher Verstellung ist die Affectation 
die schlechteste, weil die zweckwidrigste. Denn sie täuscht niemand und 
verräth jedem sogleich die verächtlichen Charaktereigenschaften, die ihr 
zu Grunde liegen: sie wurzelt, wie jeder Betrug, in der Furcht und 
Feigheit; sie zeigt, wie sehr das affectirte Subject sich selbst verachtet, 
da ihm ja das angenommene falsche Wesen und Gethue weit besser 
und gefälliger erscheint, als die eigene natürliche Art und Weise. Das 
Hufeisen klappert, weil ihm ein Nagel fehlt? 
Die den Menschen eingewurzelte Selbstsucht und feindselige Ge 
sinnung ist so mächtig und Penetrant, daß, wie La Rochefoucould ge 
sagt hat, in dem Unglück selbst unserer besten Freunde etwas sei, das 
uns nicht ganz mißfalle: ein erschreckender Ausspruch, den Kant (ohne 
den Vorgänger zu nennen) in seiner Religionsphilosophie, wo er von 
dem radicalen Bösen in der menschlichen Natur handelt, beigestimmt
	        
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