Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

242 Von der Erkenntnißlehre zur Metaphysik. 
herrscht, während die zweite, da sie in unerforschte Tiefen dringt, nur 
die Sache weniger Personen und ihrer Anhänger sein kann. 
Die Volksreligion ist „Dolksmetaphysik": sie ist die Weise, wie 
in den Völkern und Völkerfamilien das metaphysische Bedürfniß echt 
menschlichen Ursprungs zur Befriedigung gelangt. Wie mächtig in der 
Menschheit dieses Bedürfniß sich regt und befriedigt zu werden ver 
langt, bezeugen uns die Pagoden und Moscheen, die Tempel und 
Kirchen aller Art, die sich über den Erdkreis verbreiten. Die Priester 
sind die Verwalter, gleichsam die Generalpächter und Monopolisten des 
metaphysischen Bedürfnisses, welches ohne alles eigene Nachdenken durch 
andere befriedigen zu lassen, die bequemste und populärste Sache von 
der Welt ist. 
Wenn man glaubt, was die Priester lehren, und thut, was sie 
vorschreiben, so darf man gewiß sein, daß unser Leben nicht mit dem 
Tode erlöschen, sondern nach ihm fortbestehen wird, unter den günstigsten 
Bedingungen. An diesem Punkte, die Unsterblichkeit der Seele genannt, 
hängt die übernatürliche Ordnung der Dinge und das metaphysische 
Bedürfniß der Massen. Um aber die Gewißheit einer solchen Fort 
dauer zu hegen, muß man mit unerschütterlicher Festigkeit an die 
Dogmen der Priesterreligion glauben, und es giebt einen sicheren und 
unfehlbaren Weg, einen solchen Glauben herzustellen: wenn der Unter 
richt der Kinder von den Priestern ausgeht und abhängt, wenn die 
Glaubenslehre als Kinderlehre wirkt, wenn in früher Jugend dem 
zarten, zu eigener Gedankenarbeit noch unreifen Gehirne die Dogmen 
eingeprägt werden. Dann gestalten sich dieselben fast zu angebornen 
Ideen und der Glaube daran zu einem zweiten Jntellect. Der Unter 
richt der Kinder in der Hand der Priester ist deshalb eines der größten 
und gewaltigsten Privilegien, von dessen Besitz und Ausübung der Be 
stand aller Volksreligion und Volksmetaphysik abhängt. Da nun auf 
den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele auch der an die ewige 
Vergeltung sich gründet, und dieser die einzige Form ist, in welcher 
die Volksmetaphysik sich die moralische Ordnung der Dinge vorstellt, 
so dient dieselbe zum Leitstern des Handelns, zur öffentlichen Standarte 
der Rechtlichkeit, zum Trost im Leben und Sterben. Aus diesem Grunde 
sind die Religionen für nothwendige und unschätzbare Wohlthaten zu 
achten. Was aber näher ihren Werth und Wahrheitsgehalt betrifft, 
so ist derselbe nicht nach der Ansicht, die sie von Gott, sondern viel 
mehr nach der Ansicht, die sie von der Welt haben, zu schätzen: der
	        
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