Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

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Von der Erkenntnißlehre zur Metaphysik. 
Schicksalen, die der Weltlauf mit sich bringt; die erste ist erreichbar 
und nicht zu zerstören, die zweite dagegen bleibt unerreicht und wird 
sicherlich zerstört. 
Es ist klar, daß die völlig in unserer Macht, d. h. in unserem 
Willen gelegene Art der Glückseligkeit die einzig mögliche, vernunft 
gemäße und praktische ist; man möge dieselbe mit Chrhsippus als 
„das vernunftgemäße" oder mit Kleanthes als „das naturgemäße 
Leben" bezeichnen. Beides heißt, nur dem eigenen Willen gemäß oder 
in Uebereinstimmung mit sich selbst leben. Da wir den Weltlauf nicht 
unseren Wünschen anpassen können, so ziehen wir es vor, unsere Wünsche 
dem Weltlauf anzupassen, oder anders ausgedrückt: da wir die Freiheit 
von den Uebeln der Welt nicht durch die Erfüllung unserer Wünsche 
erreichen können, so erreichen wir sie durch die Aufhebung unserer 
Begierden. 
Die Herstellung dieser Freiheit in der ganzen Bedürfnißlosigkeit, 
die ihr zu Grunde liegt, wie in der sorglosen und heiteren Gemüths 
verfassung, die daraus folgt, war das Ziel und Werk der Kyniker. 
Das Ideal des Weisen wurde gelebt und verkörpert, aller Luxus ab 
gethan und die Rückkehr zum rohen Naturzustände schon in einer 
Weise gezeigt und ergriffen, die an Rousseau und seine Schrift über 
den Ursprung der menschlichen Ungleichheit erinnert. 
Die Stoiker haben den Kynismus, der seine Lebensweisheit praktisch 
ausführte, theoretisch gemacht und das Hauptgewicht in die Ueberzeugung 
von der Nichtigkeit und Entbehrlichkeit der Güter der Welt gelegt, 
so daß man dieselben in aller Ruhe genießen dürfe, wenn man nur 
von ihrer Werthlosigkeit gründlich überzeugt sei; man brauche die 
Güter und Genüsse der Welt nicht wirklich zu entbehren, wenn man 
sie nur aus voller Einsicht für entbehrlich halte; man dürfe an einer 
üppigen Tafel schwelgen, wenn man nur zugleich die genugthuende 
Ueberzeugung hege, daß man sich im Grunde aus allen diesen Genüssen 
nichts mache. 
Indessen würde man die Welt- und Lebensverachtung, die bei den 
Stoikern bis zur Empfehlung des Selbstmordes fortging, ganz ver 
kennen, wollte man darin schon einen Ausdruck echter Weltüberwindung 
erblicken. Ihre Welteutsagung ist stolz, die Wurzel ihrer Weltverachtung 
ist das erhabene Selbstgefühl und der ihm gemäße Selbstgenuß. Ihre 
Abhärtungen und Entbehrungen haben nichts mit der Askese, ihre 
Selbstgefühle nichts mit der Selbstverleugnung und Demuth gemein,
	        
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