Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

Schopenhauers Charakter. 
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Unterscheiden wir Anfang und Ende, Ursprung und Ziel der 
Lehre, ihre Entstehungsart und ihre Resultate: jener entspricht, diesen 
widerspricht der Charakter des Philosophen. Vergleichen wir die Lehre 
Schopenhauers mit seiner moralischen Persönlichkeit, so ist der Wider 
spruch klaffend; vergleichen wir sie mit seiner genialen Geistesart, so 
finden wir Lehre und Leben im Einklang. 
Er selbst hat das fragliche Verhältniß genau in diesem Sinne 
aufgefaßt. Wenn er den moralischen Vorwürfen der Gegner Rede 
und Antwort stehen wollte, so würde er sagen: „Sie treffen mich nicht; 
ich erkläre, was die Dinge sind, nicht mehr und weniger, ich inter- 
pretire die Welt und enthülle, worin ihr Wesen und die Erlösung von 
demselben besteht. Alle weiteren Fragen, alle tieferen Begründungen 
kümmern mich nicht, sie sind und bleiben für mich «transscendent». 
Auch verpflichte ich zu einer bestimmten Lebens- und Willensrichtung 
weder mich noch irgendweu. Mein Thema ist das Sein, nicht das 
Sollen. Seit wann wirft man dem Aesthetiker und Kunstkenner vor, 
daß er kein Künstler ist, oder dem Bildhauer, daß er den schönen 
Menschentypusj den er uns im Marmor darstellt, nicht in seinem 
eigenen Leibe verkörpert?" 
Demnach will Schopenhauer selbst sein Wesen genau so auffassen 
und von anderen aufgefaßt wissen, als wir dasselbe hier erklären und 
darstellen. Nehmt mich als Genie und Künstler, und die Ueberein 
stimmung zwischen mir und meinen Werken, zwischen der Art, wie ich denke 
und der Art, wie ich bin, lebe, schreibe und lehre, zwischen der Art, wie 
ich meine Ideen empfange und der, wie ich sie auspräge, kurz die Ueber 
einstimmung zwischen meinem Leben und meiner Lehre liegt für jeden, 
der Augen hat zu sehen, klar am Tage. „Ich stecke in meinen Werken. 
Jedes dieser Werke, an dem die Welt vorübergeht, ohne es und mich darin 
zu erkennen, ist ein Raphael in der Bedientenstube!" Darum hat 
auch, wie K. Bähr aus seinen Gesprächen mit Schoperhauer berichtet, diesen 
unter den Dichtungen Goethes keine so tief ergriffen und gerührt, wie 
des „Künstlers Erdenwallen". In diesem Künstler sah er sich. 
Wir müssen zugestehen, daß seine Werke den künstlerischen Cha 
rakter bewähren. Ihre Ideen sind einleuchtend geordnet und mit einer 
so anschaulich machenden, die Aufmerksamkeit so lebhaft weckenden und 
fesselnden Kraft ausgeprägt, daß wir oft den Darstellenden über dem 
Dargestellten vergessen. Wir beurtheilen hier nicht den endgültigen Werth 
und die Folgerichtigkeit seiner Lehre. Ob man mit ihr übereinstimme,
	        
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