Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

Schopenhauers Charakter. 
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damals kaum mehr öffentlich bekannt war, als daß er ein Weltverächter 
und einsiedlerischer Sonderling fei. Als aber die Gwinnersche Bio 
graphie erschienen war (1862), fiel der Schleier von dem „geheimniß 
vollen Wesen in Frankfurt a. M.", wie ihn John Oxenford genannt 
hatte, und nun erhoben sich in den Tagesblättern laute Stimmen, die 
seinen Charakter verurtheilten: er sei in der Theorie der ausgesprochenste 
Pessimist, im Leben ein raffinirter Epikureer gewesen, er habe in seiner 
Moral die Weltentsagnng und Selbstverleugnung gelehrt, aber in 
seinem Leben dem rücksichtslosesten Hochmuth und Egoismus gefröhnt; 
nie sei die Discrepanz zwischen Lehre und Leben in einem Philosophen 
schreiender gewesen als in ihm. 
So leicht aber ist der Knoten nicht zu lösen. Schopenhauer ist 
ein Charakterproblem ganz eigenthümlicher und überraschender Art. 
Wir müssen den Gegenstand von zwei Gesichtspunkten aus betrachten: 
unter dem einen springt der Widerstreit zwischen ihni und seiner Lehre 
in die Augen, unter dem andern erscheinen beide in völligem Einklang. 
II. Der Widerstreit zwischen Lehre und Charakter. 
1. Die Philosophie als Moral und Religion. 
Es ist wahr, daß die Beweisführungen jener Gegner, die an der 
Hand Gwinners den Philosophen zu Tisch und Bett begleitet und die 
Annehmlichkeiten seiner Diät von Stunde zu Stunde verfolgt haben, 
recht gering und kleinlich waren; aber ich kann nicht finden, daß es 
seinen Vertheidigern, wie O. Lindner und I. Frauenstädt, im mindesten 
gelungen sei, die Hauptsache, nämlich den Widerstreit zwischen Schopen 
hauers Moralphilosophie und Charakter fortzuschaffen? 
Es hilft nichts, wenn Frauenstädt eine Menge schöner und er 
habener Aussprüche seines Meisters herzählt, denn es ist ja gerade der 
Widerstreit zwischen seinen Worten und Werken, auf den man uns 
hinweist. Ebensowenig wird ausgerichtet, wenn dieser Apologet den 
Apostel Paulus zu Hülfe ruft und den Gegnern vorpredigt, daß es 
nicht auf die Werke, sondern auf den Glauben und die Gesinnung an 
komme, denn es ist ja gerade die seiner Lehre gemäße, im wirklichen 
Leben bewährte Gesinnung, welche man dem Philosophen abspricht. Was 
man, mit dem Apostel zu reden, an ihm vermißt, ist jene Liebe, ohne 
welche die Rede mit Menschen- und Engelzungen ein tönendes Erz ist 
1 S. oben Cap. I. S. 3—4. 
Fischer, Gesch. d. Philos. IX. 2. Aufl. R. A. 
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