Schopenhauers Charakter.
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damals kaum mehr öffentlich bekannt war, als daß er ein Weltverächter
und einsiedlerischer Sonderling fei. Als aber die Gwinnersche Bio
graphie erschienen war (1862), fiel der Schleier von dem „geheimniß
vollen Wesen in Frankfurt a. M.", wie ihn John Oxenford genannt
hatte, und nun erhoben sich in den Tagesblättern laute Stimmen, die
seinen Charakter verurtheilten: er sei in der Theorie der ausgesprochenste
Pessimist, im Leben ein raffinirter Epikureer gewesen, er habe in seiner
Moral die Weltentsagnng und Selbstverleugnung gelehrt, aber in
seinem Leben dem rücksichtslosesten Hochmuth und Egoismus gefröhnt;
nie sei die Discrepanz zwischen Lehre und Leben in einem Philosophen
schreiender gewesen als in ihm.
So leicht aber ist der Knoten nicht zu lösen. Schopenhauer ist
ein Charakterproblem ganz eigenthümlicher und überraschender Art.
Wir müssen den Gegenstand von zwei Gesichtspunkten aus betrachten:
unter dem einen springt der Widerstreit zwischen ihni und seiner Lehre
in die Augen, unter dem andern erscheinen beide in völligem Einklang.
II. Der Widerstreit zwischen Lehre und Charakter.
1. Die Philosophie als Moral und Religion.
Es ist wahr, daß die Beweisführungen jener Gegner, die an der
Hand Gwinners den Philosophen zu Tisch und Bett begleitet und die
Annehmlichkeiten seiner Diät von Stunde zu Stunde verfolgt haben,
recht gering und kleinlich waren; aber ich kann nicht finden, daß es
seinen Vertheidigern, wie O. Lindner und I. Frauenstädt, im mindesten
gelungen sei, die Hauptsache, nämlich den Widerstreit zwischen Schopen
hauers Moralphilosophie und Charakter fortzuschaffen?
Es hilft nichts, wenn Frauenstädt eine Menge schöner und er
habener Aussprüche seines Meisters herzählt, denn es ist ja gerade der
Widerstreit zwischen seinen Worten und Werken, auf den man uns
hinweist. Ebensowenig wird ausgerichtet, wenn dieser Apologet den
Apostel Paulus zu Hülfe ruft und den Gegnern vorpredigt, daß es
nicht auf die Werke, sondern auf den Glauben und die Gesinnung an
komme, denn es ist ja gerade die seiner Lehre gemäße, im wirklichen
Leben bewährte Gesinnung, welche man dem Philosophen abspricht. Was
man, mit dem Apostel zu reden, an ihm vermißt, ist jene Liebe, ohne
welche die Rede mit Menschen- und Engelzungen ein tönendes Erz ist
1 S. oben Cap. I. S. 3—4.
Fischer, Gesch. d. Philos. IX. 2. Aufl. R. A.
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