Volltext: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre [9. Band, zweite neu bearbeitete und vermehrte Auflage] (9,2 / 1898)

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Schopenhauers Charakter. 
„angeborenen" und den „erworbenen Charakter" unterschieden. Von 
jenem gilt das orphische Urwort: „Nach dem Gesetz, wonach du an 
getreten, so mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehn!" Dieser ist 
eben dasselbe Ur- und Grundgesetz im Lichte der Erfahrung und des 
Bewußtseins: unser erworbener Charakter ist der angeborene, nachdem 
wir denselben erlebt, kennen gelernt, unsern Lebenszwecken angepaßt 
und nach den Regeln der Lebensklugheit geschliffen haben. Zufolge 
des angeborenen Charakters heißt es: „Ich bin so und nicht anders, 
darum handle ich so und nicht anders"; zufolge des erworbenen: „Ich 
weiß, daß ich so und nicht anders bin, darum handle ich meiner 
Selbstkenntniß gemäß so, wie es nöthig ist, um meine Ziele zu er 
reichen". Beide Handlungsweisen verhalten sich, wie der unkluge und 
kluge, der unwachsame und wachsame Verstand, sie fallen sehr ver 
schieden aus, der Kern des Charakters bleibt sich gleich. 
Aus der Lebensgeschichte und den Schicksalen des Individuums, 
denen der angeborene Charakter zu Grunde liegt, resultirt der erworbene, 
d. i. der mit Bewußtsein ausgebildete und ausgeprägte. Welches Ge 
präge hat Schopenhauers angeborener Charakter in seinem zweiund- 
siebzigjährigen Lebenslaufe gewonnen? Die Früchte des letzteren sind 
seine Werke und Lehre, die er selbst so oft für die eigentliche Essenz 
seines Lebens erklärt hat. Wie also hat sich seine Lehre in seinem 
Leben, seine Philosophie in seinem Charakter dargestellt? Wie ver 
halten sich beide zu einander? 
Soweit wir die Persönlichkeiten der großen Philosophen zu be 
urtheilen vermögen, finden wir eine Zusammenstimmung ihrer Jdeen- 
richtung mit ihrer Willens- und Lebensrichtung, sie ist nicht immer 
von bewunderungswürdiger Art. Ich selbst habe in meiner Geschichte 
der neuern Philosophie einen wesentlichen Theil meiner biographischen 
Betrachtungen dem Thema einer solchen Vergleichung gewidmet und 
die parallelen Züge zwischen Philosophie und Leben in Männern, wie 
Bacon, Hobbes, Locke, Descartes, Malebranche, Spinoza, Leibniz, Kant, 
Fichte und Schelling hervorgehoben. Wir finden hier keinen Sokrates 
und vermissen ihn auch nicht. Aber es giebt auch hier Charaktere, in 
welchen sich die Lehre auf eine erhabene Art personificirt hat, wie es in 
Spinoza und Fichte geschah. 
Nachdem Schopenhauers „Parerga" erschienen waren (1851), sein 
letztes Werk, seine erste viel gelesene Schrift, so gelangte er schnell in den 
Ruf eines originellen philosophischen Schriftstellers, von dessen Leben
	        
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