Volltext: Der Weltkrieg der Dokumente

Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914 
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lichkeit zu erweisen. Die Türken aber erblickten in dem russischen 
Wunsche den Anfang eines russischen Protektorats über das tür 
kische Reich. Der deutsche Botschafter in Konstantinopel, Frhr. 
v. Marschall, warnte eindringlich vor einer Unterstützung der russi 
schen Pläne, die unfehlbar zum Zusammenbruch der Selbständigkeit 
des türkischen Reiches führen müßten 1 . „Wenn die russischen Pan 
zerschiffe den Bosporus durchfahren, so ist Rußland Herr von Kon 
stantinopel. Der Sultan wird allmählich zu der Rolle herabsinken, 
die der Emir von Buchara einnimmt. Statt Botschaftern würden Kon 
suln durchaus genügend sein, die fremden Interessen zu vertreten... 
Wenn wirklich Rußland, wie hier gefürchtet wird, die Meerengen 
frage auf das Tapet bringt, so wird eines der schwersten und ge 
fährlichsten Probleme zur Lösung gestellt. Erreicht Rußland, was 
es anstrebt, so ist die orientalische Frage in dem traditionell russi 
schen Sinne gelöst, d. h. die Türkei zu einem Vasallenstaat des 
weißen Zaren degradiert.“ Marschalls Besorgnisse waren derartig 
schwerwiegende, daß er schließlich um seine Abberufung von Kon 
stantinopel bat. Bethmann Hollweg wußte ihn aber zum Verbleiben 
auf seinem Posten zu bewegen 1 2 . 
Da weder England noch Frankreich bereit waren, die russi 
schen Wünsche tatkräftig zu unterstützen, ließ man in Petersburg 
den Plan fallen. Als Sasonow, der krankheitshalber lange in Davos 
geweilt hatte, über Paris am 11. Dezember auf seiner Rückreise nach 
Petersburg in Berlin eintraf, erklärte er, daß es eine Dardanellenfrage 
gar nicht gäbe. Von ihm ging demnächst der Gedanke aus, durch 
einen gemeinsamen Schritt der Mächte den italienisch-türkischen 
Kriegszustand möglichst bald zu beenden 3 . 
So endete das Jahr 1911 mit einer Reihe noch unerledigter 
außenpolitischer Probleme. Die akute Spannung zwischen Frank 
reich und Deutschland war zwar beseitigt. Die Marokkokrisis hatte 
aber zweifellos eine Stärkung der Entente bewirkt. Neue Auseinan 
dersetzungen mit England über den gegenseitigen Flottenbau stan 
den bevor. Voraussichtlich konnten sie nur zu einer Verschärfung der 
Lage führen, da jetzt auch die öffentliche Meinung Deutschlands eine 
Verstärkung der deutschen Flotte forderte, um solchen Gefahren, 
wie sie 1911 zutage getreten waren, in Zukunft besser gewachsen zu 
sein. Der innere Bestand des Dreibundes war durch Italiens Tripolis 
krieg nicht unerheblich beeinflußt, Deutschlands Stellung zur Türkei 
einer schweren Belastungsprobe ausgesetzt. 
1 Pera, 30. November 1911. Gr. Pol. Nr. 10982. 
2 Gr. Pol. Nr. 10990—10 996. 
3 Gr. Pol. Nr. 11006—11008.
	        
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