Das Jahr 1907
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Beziehungen bis auf weiteres immer die Rücksicht auf Frankreich
und der Ausbau der deutschen Flotte im Wege stehen würden. Ins
besondere habe das vor einigen Tagen bekanntgewordene neue
deutsche Marineprogramm wieder starke Beunruhigung hervor
gerufen.
Am 14. November hatte nämlich der Bundesrat die Einbrin
gung einer neuen Flottenvorlage an den Reichstag genehmigt, wo
nach die Lebensdauer der Linienschiffe von 25 auf 20 Jahre herab
gesetzt und eine Verteilung der Ersatzbauten für die Jahre 1908 bis
1917 in der Weise vorgesehen wurde, daß zunächst für die Jahre
1908—1911 jährlich je drei Linienschiffe und zwei kleine Kreuzer
neu aufgelegt werden sollten. Diese Flottennovelle bedeutete zu
gleich eine Verjüngung des Schiffsmaterials und einen wesentlichen
Zuwachs an Kampfkraft. Sofort forderte die englische Presse eine
Vergrößerung der eigenen Flotte. Der Kriegsminister Haldane ver
langte außerdem eine Verstärkung der englischen Armee und Land
verteidigung. Gelegentlich wurde bereits von der Einführung der all
gemeinen Wehrpflicht gesprochen.
In einer Rede in Hüll am 18. Dezember 1907 bezog sich Haldane
ausdrücklich auf den deutschen Kaiser: „Ich glaube,“ so sagte der
Kriegsminister, „daß es keinen Mann gibt, der aufrichtiger den Frie
den der Welt wünscht, als den Deutschen Kaiser. Seine Majestät
aber ist der Auffassung, daß der Frieden nur für den gesichert ist,
der gerüstet ist, und er vermehrt daher nicht nur die Ausgaben für
seine Flotte, sondern auch für seine Armee 1 .“
Deutschlands Lage bei Abschluß des Jahres 1907
Das Jahr 1907 hatte eine völlig neue Gruppierung der Groß
mächte zum Abschluß gebracht. Dem Dreibunde stand der um
England erweiterte Zweibund gegenüber. Zwar war der Dreibund
am 8. Juli 1907 stillschweigend erneuert worden, aber es hatte sich
doch schon allzu deutlich herausgestellt, daß auf Italien im Falle
einer kriegerischen Verwicklung nur sehr bedingt gerechnet werden
durfte. Die Entwicklung der Dinge auf dem Balkan, das Schicksal
der europäischen und der asiatischen Türkei bildeten den Gegen
stand dauernder Sorgen, da man bei der Teilung des türkischen
Erbes unbedingt mit einer feindlichen Richtung der beiden Groß
machtgruppen rechnen mußte.
Was blieb, nachdem England den Anschluß an die Gegenseite
gefunden hatte, für die deutsche Politik noch zu tun übrig? Die:
eigene Selbsterhaltung nötigte dazu, jedes Mittel zur Stärkung des
Dreibundes zu ergreifen, und wo sich irgend die Gelegenheit dazu
bot, einen allzu engen Zusammenschluß der anderen Machtgruppe 1
1 Gr. Pol. Nr. 8175.