Volltext: Salzkammergut-Familien-Kalender 1926 (1926)

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dich auf ihn los, stoße ihm das Messer ins Herz und du bist frei." 
Gott weiß, was ich getan hätte, wenn der schreckliche Mann nicht 
in diesem Augenblicke erwacht wäre. 
Während des Tages beschäftigte sich der Indianer mit Aus¬ 
besserung des Wigwams und einiger Netze, die er mitgebracht 
hatte. Gegen Abend stand er auf, betrachtete mich lange mit einem 
Blicke, als wollte er das Innerste meines Herzens durchforschen. 
So ängstlich ich wurde, hielt ich seinen Blick doch aus. Endlich 
sagte er: „Bleib' hier!" ging dann ans Ufer und fuhr fort. 
Ich beobachtete ihn, bis ich ihn aus dem Gesichte verlor. 
Schon fühlte ich mich frei — aber plötzlich dachte ich wieder an 
meine Hilflosigkeit und Verlassenheit, ich war ja ganz allein in 
der Wildnis des Urwaldes, ohne Speise und Trank. Hatte er. viel¬ 
leicht beschlossen, mich dem Hungertode zu weihen, oder wollte er 
wieder zurückkommen? Als ich dies bei mir überlegte, sagte ich 
laut zu mir selbst: „Mag er auch wiederkommen, hier soll er mich 
nicht mehr finden." 
Aber wohin sollte ich fliehen? Ich wußte nicht, wo ich war. 
Im Dickicht des Urwaldes fand sich kein Pfad. Da erinnerte ich 
mich des Jndianerdorfes am jenseitigen Ufer, und daß mein 
Mann mir gesagt hatte, die Indianer in der Gegend des Obern- 
Sees hätten so gewaltigen Respekt vor den Weißen, daß sie keinen 
zu beleidigen wagten, aus Furcht, entdeckt und bestraft zu werden. 
Ich wußte nicht, was für ein Stamm in jenem Dorfe wohnte, 
aber ich' dachte, er würde mit den andern die Furcht vor den Wei¬ 
ßen teilen, und wenn auch ein einzelner es wagte, sich der Rache 
der Weißen auszusetzen, so würde der ganze Stamm sich nicht 
dieser Gefahr preisgeben wollen. Kurz, ich faßte Hoffnung, daß 
sie mich nach Ontonagon führen würden, zumal, wenn ich ihnen 
eine große Belohnung verspräche. 
Dann kniete ich nieder und flehte zu Gott, mich auf meinem 
gefährlichen Wege geleiten und schützen zu wollen, und begann 
die schwierige Reise. Ich wanderte durch die Wildnis, die vorher 
vielleicht noch keines Menschen Fuß betreten hatte. Was ich litt, 
ist unbeschreiblich. Es war bereits dunkel geworden. Oft stolperte 
ich über Wurzeln oder über einen Baumstrunk,' oft watete ich bis 
an die Knie im Schlamm. Dornen zerrissen meine Kleider und 
verwundeten mich, so daß meine Hände und mein Nacken nur 
mehr eine große Wunde zu sein schienen. Aber mit der Kraft der 
Verzweiflung eilte ich vorwärts durch Dornen und Gestrüpp. Ich 
hörte nichts als das Geräusch meiner Schritte und das Rauschen 
des nahen Flusses. Ich wanderte nämlich immer dem Flusse ent¬ 
lang, um eine Furt zu finden, durch welche ich ans jenseitige Ufer 
gelangen könnte, wo das Dorf lag. In der Nähe hinüber zu
	        
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