Volltext: Salzkammergut-Familien-Kalender 1924 (1924)

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Eine ganz kleine Geschichte. 
Von Gisela Neuvajcher. 
Ach — das gab eine Aufregung und ein Durch¬ 
einander in der himmlischen Werkstätte, als noch 
in der letzten Stunde des Jahres Auftrag kam, 
ein Menschenkindchen fertigzumachen, welches 
noch vor Anbruch ses neuen Jahres die Fahrt 
zur Erde antreten sollte. 
Eine arme, arme Mutter hatte im Herbst ihr 
einziges Kind hergeben müssen — mit den Blu¬ 
men und Blättern ist's dahingewelkt — und als 
die ersten kalten Winterstürme über die Erde 
# fegten, mußte sie ihm das letzte Bettchen herrich¬ 
ten, aus dem es nicht mehr erwachen kann. Und 
weil das sehnsuchtskranke Mutterherz gar nicht 
aufhört zu bluten und immer — immer nach dem 
verlorenen Kinde weint, will der liebe Gott ihm 
wieder eine kleine Seele schenken — noch im alten 
Jahr, damit dieses gesegnet dem neuen Platz ma¬ 
chen kann. — 
Die Englein stoben geschäftig hin und her, um 
alles für di-e große, schöne Arbeit herzurichten. 
Aber der „Erste" seufzte und stöhnte: „Ach, wie 
sollen wir noch ein Menschlein machen, alle Tie¬ 
gel sind leer, alle, alle Vorräte verbraucht und 
wir bekommen erst mit dem neuen Jahr wieder 
frisches Material". Aber öte Helfer trugen her¬ 
bei, was zu finden war: Ein bißchen ganz schönen 
feinen Künstlerton, mit dem sich so gut modellie¬ 
ren ließ, der aber auch in der Himmelswerkstatt 
so „rar" war, daß im ganzen Jahr nur wenige 
der allerschönsten Menschenkinder geformt werden 
konnten. Dann fanden sie noch ein wenig ge¬ 
wöhnlichen Töpferton, ein bißchen Gips und Erde 
— und mit vieler Mühe wurde ein winziges 
Kindlein daraus geformt. Dem Engel, der die 
Arbeit machte, war traurig und bang zumute: 
Wte sollte solch zartes, gebrechlichles Ding in der 
rauhen Welt fortkommen? Doch er hatte nicht viel 
Zeit zu Betrachtungen, es warteten schon wieder 
andere Hände, um das Werk fortzusetzen und zu 
vollenden. 
Nun kam das Kind in die Mal-Abteilung, wo 
es schön gemacht werden sollte. Doch was der En¬ 
gel auch suchte, nichts wollte mehr zusammenstim- 
men. Er mutzte der neuen Kleinen ein blaues und 
ein braunes Auge malen — es reichte nicht mehr 
anders — und eine ganz weiße Haut, die aber 
dann so geisterhaft aussah, daß er doch einen rosi¬ 
gen Schimmer darüber zog. Von der roten Farbe 
war ja zum Glück noch am meisten vorhanden, so 
konnte er dem kleinen Ding auch recht liebe rote 
Wangen machen. Leider blieb aber auch für die 
Haare nichts anderes mehr übrig: das Meister- 
lein putzte alle Tiegeln aus, die Schwarzen und 
die goldenen und die braunen, damit das Not ein 
wenig gedämpft wurde und nicht gar so vorlaut 
leuchten sollte. 
Die Härchen haben die viele Farbenmischung 
nicht besonders gut vertragen und kugelten sich 
zu lauter kleinen Löckchen zusammen, was aber 
sehr putzig aussah — man konnte darüber sogar 
das Not 'vergessen. 
Ein neugieriges kleines Helferenglein wollte 
alles besonders gut sehen und stieß dabei so un¬ 
vorsichtig icm die noch feuchte Nase, daß sie ganz 
aus der Form kam. Gerade war aber ein anderer 
Engel dabei, den Mund einzuzeichnen und ist 
darüber so erschrocken, daß der Strich ein weniges 
zu lang wurde. Nun nahm er schnell das dun¬ 
kelste, freudigste Rot und malte die allerschönsten 
Lippen. Wenn der Mund schon zu groß war, sollte 
er wenigstens leuchten und schön sein — wie eine 
Mohnblüte. — Ja, dachte er, das ganze Dinglein 
mit seinen vielen Farben sieht eigentlich aus wie 
eine fremde, aber doch ganz freundliche Blume. 
Dann bemühte er sich, die Nase wieder ein 
wenig zurechtzumachen und' tippte mit den Fin¬ 
gern so lange hin, bis das allerliebste Stumpf¬ 
näschen fertig war. Es sah zwar wieder lein wenig 
komisch aus und die kleine Helferbande lachte 
recht ungezogen dazu — aber es paßte ganz gut 
zu diesem Bündel Vielseitigkeit. 
Das äußere Kindlein war nun fertig. Man 
holte schnell die Fee, die jedem ,Erdenwanderer 
eine schöne Gabe, ein feines Geschenk mitgab, da¬ 
mit sie auch dem Kindlein Patin sei. Lange be¬ 
trachtete die schöne Frau das Kleine und lächelte 
traurig. Armes, alle Talente, alle Vorzüge/ die 
den Menschen im Leben forthelfen, habe ich im 
Laufe des Jahres schon verschenkt, morgen be¬ 
komme ich vom lieben Gott erst wieder meine 
Hände gesüllt/wie wird es dir Häßlichem auf der 
Welt gehen. Ich kann dir dein Herz nur mit Hu¬ 
mor und Frohsinn anfüllen, hilft dir 
das weiter, obwohl die Menschen jetzt *gar nicht 
mehr viel Sinn und Verständnis dafür, haben. 
Leise streichelte sie das kleine Köpfchen und küßte 
den leuchtenden Mund. 
Da wartete aber schon der Schutzengel, welcher 
das neue Menschenkind vor den lieben Gott brin¬ 
gen sollte, damit es eine Seele bekommt. Mit 
flehenden Augen hielt er das Kind zum göttlichen 
Thron empor, daß es das Leben empfange. Der 
liebe Gott schaute unendlich milde und gütig auf 
dies neue Stückchen Menschheit und segnete es.
	        
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