Volltext: Salzkammergut-Familien-Kalender 1920 (1920)

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lichen Regung Raum zu geben, 
durchtönte die weiche Stimme ihres 
Beleidigers den sommerlichen Garten 
wie «ferner Glockenklang. Melanie 
konnte nicht anders — sie mußte hin¬ 
überlauschen, und darüber vergaß sie 
ihren Groll. 
Wie im Traum hatte sie von da ab 
weiter gelebt. Das fühlte sie jetzt wie¬ 
der. Und wieder hörte sie die Buche 
rauschen und fand sich dort — im 
Kreise der lernenden Kinder. Von 
der nahen Laube her drang gedämpftes 
Gespräch an ihr Ohr. Dort saß Gustav 
zwischen Röschen und deren Mutter 
und zeichnete den kleinen Hans. Die¬ 
ser stand geduldig und ahnungslos 
in der Ferne, um das Ende der Unter¬ 
richtsstunde abzuwarten. Denn dann 
— das wußte er — kam die Reihe an 
ihn. Wenn die Bücher zugeklappt 
wurden, durfte er sich nahen, um sich 
von seiner Meanie das Märchen vom 
„Däumelinchew" erzählen zu lassen, 
das er nicht satt wurde zu Hören. 
Plötzlich kreischten die Kinder aus. 
Gustav hatte sich über ihren Köpfen 
auf die Buche geschwungen. 
„Hier habe ich einen günstigeren 
Standpunkt", erklärte er, während er 
sich's mit seinem Skizzenbuch in einer 
Astgabelung bequem machte. ,Mitte, 
sich nichts merken zu lassen und fort¬ 
zufahren", fügte er unbefangen hinzu. 
„Ich kann ja am Unterricht teilneh¬ 
men. Nicht wahr, Fräulein Melanie, 
Sie gestatten es? Ich verspreche die 
beste Aufführung." 
„Man handelt nach Gutdünken, 
wenn man frei ist", erwiderte sie zu¬ 
rückweisend, — „i ch bin es nicht. Das 
ist alles, was ich Ihnen zu sagen 
weiß." Dann gab sie das Zeichen zum 
Weiterlesen. 
Gleich darauf schlug es fünf, und 
sie erhob sich, um zu gehen. Da war 
auch Hänschen nicht länger zu halten. 
„Wohin, Melanie?" ries die Tante. 
„Die Stunde ist zu Ende", lautete 
die Antwort. 
,/Hast du denn kein Auge für das, 
was sich schickt?" kam es zürnend zu¬ 
rück. „Oder ist es etwa deine Absicht, 
mich in meinen Gästen zu kränken? 
— Jetzt hätte ich genug von deinem 
Trotz! Du bleibst und sorgst dafür, 
daß der Kleine still hält." 
Damit entfernte sie sich. Denn wenn 
der Zorn sie überwältigte, hatte sie 
den Drang, sich zu verbergen. 
„Ich kann nicht sagen, wie leid mir 
das tut", versicherte Gustav, nachdem 
sie gegangen war. 
Melanie hatte wieder ihren Platz 
eingenommen und starrte finster vor 
sich hin. 
„Traurig, Melanie?" fragte der 
kleine Hans, indem er sich schmeichelnd 
an sie lehnte. 
„Nein, Hänschen", sagte sie mit 
dankbarem Lächeln. „Du bist ja bei 
mir und so artig. Da darf ich nicht 
traurig sein. Nur mußt du hübsch 
stillstehen, wie früher, und ich erzähle 
dir dafür ein neues Märchen." 
„Nein, von Däumelinchen", bat 
der Kleine. 
Und sie erzählte,' anfangs ganz 
leise, dann aber, indem sie sich an 
Hänschens Aufmerksamkeit erwärmte, 
lauter und freier, so daß jedes ihrer 
Worte zu Gustav hinaufdrang. 
Plötzlich hielt er im Zeichnen inne 
und sagte, indem er sie unterbrach: 
„Ich habe nie etwas so Herzbewegen¬ 
des gehört, wie Ihre Stimme. Wenn 
Sie mir zürnen — warum tun Sie es 
so oft? — geht mir der Ton Ihres 
Unmuts durch Mark und Bein, und 
ich fühle mich unglücklich und hasse 
mich selber. Wenn Sie aber freund¬ 
lich sprechen — wie jetzt zum kleinen 
Hans — dann wird alles Gute in mir 
wach. Ich möchte weinen vor Rüh¬ 
rung und Ihnen zu Füßen sinken und 
um Ihre Liebe betteln." 
Melanie war aufgesprungen um 
hinwegzueilen. Aber Gustav schwang 
sich vom Baum herab und trat ihr 
bleich vor Erregung in den Weg. — 
„Weshalb sind Sie mir denn so
	        
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