Volltext: Salzkammergut-Familien-Kalender 1915 (1915)

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Das Vaterunser des Allen. 
Uebersetzuug ans dem Spanischen von P. Matthias Grammer, Puchheim. 
(Aus „Hormiga de oro“, 1912.) 
Ich befand mich in Versailles. Die 
Glocke lud mich ein zur heiligen Messe. 
Da traf ich einen frommen Beter, sein 
Gewand war rauh, sein Antlitz spie¬ 
gelte das Elend ab,' doch lag über sei¬ 
nem ganzen Wesen eine mich bezau¬ 
bernde Ruhe. Er erweckte meine Neu¬ 
gier, ich fing ein Gespräch mit ihm an, 
ans Grund dessen ich bald heraus¬ 
brachte, daß er von der öffentlichen 
Mildtätigkeit lebe. Er hatte sein Weib 
und seine zwei Söhne verloren. (Wir 
sprachen natürlich n a ch der Messe und 
außer der Kirche.) Von den Söhnen 
siel einer bei Waterloo. Ich war von 
seinem Aeußern zum Mitleid ge¬ 
stimmt und bot ihm ein Almosen an. 
„Sie werden ein gegen die Kälte 
schützendes Kleid benötigen", fragte 
ich ihn. 
„Welche Sorge soll ich haben", er¬ 
widerte er mir mit mildem Lächeln 
und bewegter Stimme, „wo doch Gott 
für seine armen treuen Kinder so gü¬ 
tig sorgt." 
„Können Sie lesen?" war meine 
weitere Frage. 
„Gewiß", gab er zur Antwort. „In 
meiner Jugend hat sich der Herr Pfar¬ 
rer meiner im Unterrichte angenom¬ 
men. O, dies war ein guter Herr, der 
die Armen und Hilflosen so gerne 
hatte." 
„Haben Sie Bücher?" 
„O, mein Herr", sprach der Ange¬ 
redete, „in meinem Alter liest man 
nicht mehr viel, sondern betet man 
umso mehr." 
„Sie beten also viel?" war meine 
neugierige Frage. 
„Ja, Herr, glauben Sie es mir, das 
Beten ist ein Glück. Besonders abends 
an die Türe meiner armen Hütte ge¬ 
lehnt, betrachte ich gerne die Sonne in 
ihrem Untergehen und die Sterne in 
ihrem Aufgange, und da entringt sich 
ein stummes, aber heißes Flehen zum 
Schöpfer des Weltalls. Und wenn ich 
dann das unermeßliche Himmels¬ 
gewölbe betrachte, da kommt eine über- ; 
wältigende Bewegung über meine 
Seele. Meine Augen werden naß, und 
ich kann nur noch lispeln „Vater unser, 
der du bist in dem Himmel". 
„Und so beten Sie immer; weiter 
kommen Sie nicht?" 
„Ich betrachte den unermeßlichen 
Himmel, wie ein anderesmal die Wol¬ 
ken darüber jagen, wie diese Regen¬ 
güsse aus die Erde schütten. O, Vater 
unser, rufe ich da aus, du lebest immer, ; 
du kannst nicht sterben, wie meine 
Söhne gestorben sind." Und bei diesen 
Worten fielen reichliche Tränen über 
seine Furchen. „Armer Bertrand", 
rief er aus, „du mußtest bei Waterloo 
verbluten. Aber, mein Gott, du hast 
es ja so gewollt, dein Wille geschehe 
wie im Himmel also auch auf Erden. 
Du hast mir meine Söhne genommen, 
hast mir aber gute Menschen auf Er¬ 
den gegeben, die mich trösten. Wohl 
ist mir schwer ums Herz, wenn ich an 
die Zeit meines Familienglückes denke, 
wo wir noch alle so vertraut beisam¬ 
men lebten. Jedoch, wer mit Gott ver¬ 
kehrt, ist nie allein." So philosophierte 
der Alte. 
„Und Sie sind demnach mit Ihrem 
Lose zufrieden?" fragte ich. 
„Wie auch nicht", war die Antwort; 
„Gott hat mich ja nie noch verlassen." 
„Ja, Sie sind glücklich", sagte ich. 
„Aber, bitte, nehmen Sie diese kleine 
Gabe, und beten Sie zu Gott für mich, 
der ich so vielen Stürmen ausgesetzt 
bin." 
„Was soll ich mit dem Gelde?" 
fragte er, und wies mit von Alter zit¬ 
ternder Hand dasselbe zurück. Ich 
begriff sofort, daß ich sein Ehrgefühl 
verletzt habe. 
„Verzeihen Sie", sprach ich, „ich tat 
nur, was alle Welt unter diesen Um-
	        
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